s i e b z e h n

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| Kai |

Total fertig, aber glücklich schlurfte ich neben Julian zurück in die Kabine und zog mir meine Fußballschuhe aus. Ich spürte wirklich jeden Muskel in meinem Körper, während ich auch meine restlichen Klamotten auszog, meine verschwitzen Sachen in die Wäschebox schmiss und mich in Richtung Dusche bewegte. Egal wie hart das Training mal wieder gewesen war, ich wusste, dass ich jeden Tag alles geben musste, um bei den Profis zu bleiben und mich immer weiter zu entwickeln.

Aber in den letzten Tagen war ich sowieso immer gut gelaunt gewesen und hatte bei jedem Training wirklich jedes noch so kleine Prozent aus mir herausgeholt. Ich war mir tatsächlich noch nicht sicher, was mich in den letzten Tagen so beflügelt hatte, aber seit ich mit Josy aus diesem Keller befreit wurde, in dem ich nach 10 Jahren zum ersten Mal wieder mit ihr gesprochen hatte und sie mir sogar eine zweite Chance gegeben hatte, fühlte ich mich wie ein Affe auf einer Bananenplantage. Verloren in alten Erinnerungen, aber überglücklich. Josy hatte sich in den letzten Tagen irgendwie so selbstverständlich in mein Leben geschlichen und obwohl erst wenige Tage vergangen waren, wollte ich sie am liebsten nie wieder hergeben.

Mir war es erst jetzt wieder bewusst geworden, wie unglaublich sie mir die letzten Jahre wirklich gefehlt hatte und ich würde wirklich alles dafür geben, die Geschehnisse von damals an der Haustür rückgängig zu machen. Ihre Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten, der Anblick purer Verständnislosigkeit, den würde ich vermutlich nie wieder vergessen. Und das Bild des zermatschten Schokokuchen, den sie voller Verzweiflung auf unserer Fußmatte im Regen stehen gelassen hatte...

Ich schloss kurz die Augen und sofort spielten sich vor meinem inneren Auge unfassbar viele Erinnerungen ab, die auf der einen Seite unfassbar schön waren, sich auf der anderen Seite wie hunderte Nadelstiche auf meiner Haut anfühlten und ein unangenehmes brennen hinterließen.

Aber ich war nun mal erst zehn Jahre alt gewesen, ich war klein und naiv und vor allem war ich noch viel zu leichtgläubig gewesen, um die Welt irgendwie auch nur ansatzweise zu verstehen. Ich hatte an das Gute im Menschen geglaubt, an den Weihnachtsmann und daran, dass es keine größeren Helden als Mama und Papa gibt.

Ich hatte in einer Seifenblase gelebt, so wie jedes Kind in dem Alter, wie in einer Welt umhüllt von Zuckerwatte. Man aß und aß, man konnte dem süßen Zeug einfach nicht wiederstehen und irgendwann hatte man einfach so viel davon in sich hineingestopft, dass einem schlecht wurde. So richtig schlecht. Denn die Zuckerwatte reichte nun nicht mehr, um die bittere Realität unter ihr zu verstecken.

Und mit einer betörenden Übelkeit musste man nun feststellen, dass nichts in Wirklichkeit so war, wie es einmal geschienen hat.

Aber weil meine Zuckerwatte die Welt zu dem Zeitpunkt noch verborgen hielt und ich noch nicht wusste, wo oben und unten, wo gut und böse ist, hielt ich mich natürlich an meine Eltern. Weil ich es auf der einen Seite musste und weil ich es auf der anderen Seite einfach auch nicht besser wusste.

Doch irgendwo, tief in mir, hatte sich in der letzten Woche wieder ein Feuer entzündet. Die zweite Chance, die sie mir gegeben hatte war wie Spiritus für diese kleine Flamme Hoffnung gewesen, dass Josy mir die Zeit geben würde, die ich brauchte, bis ich ihr alles erklären konnte. Und dann würde hoffentlich auch alles gut werden.

Julians herumfuchtelnder Arm vor meinem Gesicht riss mich aus meinen Gedanken.

„Man Kai, das ist mein Shampoo." Er zeigte auf meine Haare, die ich mir gerade tatsächlich, weil ich so in Gedanken versunken gewesen war, mit seinem Shampoo eingeseift hatte und er zog eine Schnute.

„Mir doch egal.", lachte ich und streckte ihm die Zunge raus.

„Du bist so kindisch Kai." Er wandte sich von mir ab und ging zurück in die Kabine, da er anscheinend heute schneller mit duschen fertig war als ich, aber ich konnte sehen, wie er belustigt die Augen verdrehte.

melody of memories | kai havertz Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt