Alles nur ihretwegen. Dieses Mädchen. Sie hat mir nicht nur meinen Kill versaut, sondern mich auch mein eigentlich so klares Ziel hinterfragen lassen. Ich dachte, ich wäre schon längst verloren. Taub und kaputt von meiner Vergangenheit.

Warum fühlte ich mich jetzt so? Wie konnte ich dem Ganzen ein verdammtes Ende setzen? Warum hatte ich nur Fragen und keine Antworten?

Meine Psyche ist krank und kaputt. Sie hat mich ausblenden lassen, was ich tue. Ich habe dank ihr über die Tatsache, dass ich Menschen töte, hinwegsehen können. Sie hat mich geleitet und arbeiten lassen.

Also bitte kann mir jemand erklären, warum sie von einem Tag auf den anderen wieder genauso funktioniert, wie vor ein paar Jahren, als es Mom noch gab und ich jeden ihrer Blutergüsse und all ihre Wunden auch spüren konnte?

Ich konnte nicht anders und fragte mich, was Mom jetzt wohl über mich denken würde, wäre sie noch hier. Es ist mehr als nur klar, dass sie nicht erfreut über meinen Werdegang sein würde. Schließlich bin ich die jüngere Version von Vater geworden. Wenn nicht sogar noch schlimmer. Ich töte. Er hat Mom missbraucht und zum Suizid getrieben.

Ich konnte nicht anders und schloss fest meine Augen, als ich bemerkte, wie mein Sichtfeld unklar wurde. Tränen? Echt jetzt? Wo waren die die letzten Jahre gewesen? Ich versuchte sie zurückzuhalten. Es war nicht richtig. Ich verdiente es nicht. Mir stand es nicht zu an Selbstmitleid zu leiden.

Schlussendlich habe ich mich selbst in diese Position gebracht und werde jetzt damit leben müssen. Auch, wenn wahrscheinlich nicht mehr allzu lange. Genau deshalb werde ich es auch durchziehen. Es kostete mich eine Menge, doch ich drängte diesen schlimmen Schmerz ganz weit nach hinten. In die hinterste Ecke meines Ichs.

Entschlossen wischte ich die vereinzelten Tränen weg und nahm meine Maske. Ich wechselte meinen Mantel von eben mit einem Hoodie aus und holte ein Drahtseil und einen Auslöser, der das Seil, das ich über den Boden spannen werde, halten wird. Mir war ganz egal, wer in diese Falle reinrennt. Ganz egal wer. Ich brauchte das jetzt. Jemand musste mir diesen Schmerz, der, obwohl ich ihn versuchte zu ersticken, trotzdem leicht durchbrach, abnehmen, und das geht nur, indem dieser jemand sein Leben loslässt.

...

«Ist sicher alles okay, Ryou? Du kannst immer zu mir kommen und reden.» Beinahe ausdruckslos nickte ich und lief am Schreibtisch meiner Klassenlehrerin vorbei und fixierte bloß die dreckigen Schnürsenkel meiner Turnschuhe an. Was brachte mir Reden, wenn nicht ich Hilfe brauchte, sondern Mom? Nicht, dass ich es nicht schon versucht hätte.

Natürlich hatte ich mich an die Polizei gewendet, aber es war unmöglich, diese zu überzeugen, dass der Kopf der Abteilung ein Vergewaltiger und Monster ist. Egal was ich ihnen auch sagte, Vaters Worte waren diejenigen, die in den Köpfen der anderen Polizisten ankamen. Nicht meine. Und Mom hatte aufgeben. Immer, wenn ich ihr davon erzählte, winkte sie ab.

Ihr Geist war schon lange gebrochen und ich verbrachte Tag und Nacht damit, sie vor dem totalen Zusammenbruch zu wahren, aber wie lange konnte ich noch durchhalten? Ganz tief in meinem Inneren war ich mir im Klaren, dass sie nur noch meinetwegen hier war. Sie wollte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr an Vaters Seite sein. Er hat sie so sehr zerstört, dass sie allein nichts mehr auf die Reihe bekommen würde. Alles, was sie am Leben hielt, war ich.

«Ryou!» Ich zuckte zusammen, als mir Mrs Quinera in den Schulflur folgte und meinen Namen rief. Ich hörte ihre Absätze auf dem Boden aufkommen und nur wenige Sekunden später stand sie wieder neben mir. So wie jeden Tag. Sie gab nicht auf. Sie wollte wirklich helfen. «Ich habe es verstanden», gab sie leise von sich und mit diesen Worten schaffte sie es, meinem Blick zu erheben. Er traf ihren und ich blinzelte ihr unsicher entgegen. Was hatte sie verstanden? «Du denkst, dass Reden dir nicht helfen kann. Vielleicht stimmt das ja. Aber lass mich dir trotzdem etwas sagen.»

BETRAYALWhere stories live. Discover now