Teil I

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Aluminium glänzte im Mondschein. Plastik schimmerte darin. Über Schutt und Scherben, weichgezeichnet vom Silberlicht, das sich im dünnen, kaum wahrnehmbaren Nebel verlor, gleichwohl knarrend und knirschend, schritt ich den Hügel hinauf, den Hügel hinab, Richtung Bach. Auch hier noch vernahm ich den Lärm in der Ferne: das Donnergrollen und den Maschinenpuls.

Fand man irgendwo Stille?

Am Nachmittag hatte es geregnet – ein seltenes Ereignis –, und so roch es nach feuchter Erde, zu schwach aber, dass man den schwefligen Rauch nicht mehr wahrgenommen hätte, der stets in der Luft lag. Unter der Stadt schien es Tag und Nacht zu brennen. Das ewige Höllenfeuer.

Ich ließ das träge Raunen des Baches hinter mir und stieg einen weiteren Schutt- und Scherbenhügel hinauf. Am Horizont zeichneten sich, Schwarz auf Mitternachtsblau, die Ruinen ab, Überreste von Wohnblöcken, Einkaufszentren, Wolkenkratzern, der Universität.

Auch jenseits des Baches Scherben, so weit man blicken konnte: Erinnerungen an eine vergangene, eine zerschlagene, zerschossene, gesprengte, vergiftete Ära. Es hätte schön werden können, zu guter Letzt. Das Ziel, das man über die Jahrhunderte immer wieder aus den Augen verloren hatte, war nah wie nie zuvor. Der Traum von der Freiheit stand kurz vor der Verwirklichung. Die Navigationssysteme hatten die Route zurück nach Eden berechnet. Doch wenn auch das Raue überwunden schien, waren die Sterne noch außer Reichweite.

Nachdem ich das Areal südlich des Baches abgesucht hatte, begann ich in dieser Nacht damit, den Norden systematisch zu durchkämmen. Ich hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, welcher Form das Ersatzteil sein musste, das ich benötigte, doch hegte ich eine naive Zuversicht, dass es mir ins Auge fallen würde.

Ich suchte weiter, und Wolkenfetzen zogen über die Schrotthalde hinweg. Mal tauchte das Mondlicht alles in Silberschein, mal erstickte Schatten das Glänzen und Schimmern, und dann bewegte ich mich langsamer, um noch genauer hinzusehen. So mochten Stunden vergangen sein, begleitet vom fernen Lärm der Stadt, dem Dröhnen und Rumoren und dem mechanischen Herzschlag, eine ununterbrochene, monotone Kulisse, zu missklingend aber und die Atmosphäre beherrschend, als dass man es auf Dauer hätte ignorieren können.

Dann plötzlich riss mich ein anderes Geräusch aus der Konzentration – und wie sehr versetzte, was ich sah, mich in Erstaunen! Hoffnung, kaum mehr glimmend, flammte auf, als ich mich versicherte, dass mich meine Sinne nicht trogen und dass nicht mein Geist in seiner Sehnsucht mir einen Streich spielte. Denn dort, vielleicht fünfzig Meter weit entfernt, wandelte ein Mädchen daher, auf leisen Sohlen – barfuß! – über die Ansammlung ausgedienter Technologie. Sie trug ein weißes Kleid, dessen Saum in der Bewegung und der Brise wehte. Das Haar floss ihr die Schultern hinab wie flüssiger Anthrazit, und ihre Augen leuchteten, als reflektierten sie das Licht des Mondes. Sie hatte eine Tasche aus hellem Leder bei sich. Auch sie schien auf der Suche zu sein, den Blick auf den Boden gerichtet, ihn dann und wann nach links und rechts lenkend und, wenn sie ein interessantes Objekt ausgemacht zu haben glaubte, die Richtung ihrer Schritte ändernd. Die Schritte allerdings hatten etwas Ungewöhnliches an sich. Zwar zeugten sie dem ersten Eindruck nach von vollkommener Körperkontrolle, ja beinahe surrealer Eleganz, doch schlich sich in manchen Momenten eine seltsame Unregelmäßigkeit hinein, ein leichtes Hinken zuweilen, das den Verdacht einer Verletzung aufkommen ließ. Ungeachtet der subtil wahrnehmbaren Einschränkung, bewegte sich das Mädchen in effizientem System über die Halde, und hätte ich nicht in Voraussicht meine Position geändert – auf dem unwegsamen Untergrund schleichend, der mir selbst mit meinen gesunden Beinen mehr Schwierigkeiten bereitete als dem hinkenden Mädchen –, wäre ich gewiss entdeckt worden.

Zwei Gründe hatte ich, mich nicht zu offenbaren. Zum einen empfand ich die Situation aufgrund ihrer regelrechten Surrealität als geradezu furchteinflößend, zum anderen hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich mich hätte gebaren, was ich hätte sagen sollen. Aus Sorge, in der Aufregung des Moments eine falsche Entscheidung zu treffen oder die falschen Worte zu wählen und so die Möglichkeit menschlichen Kontakts unwiederbringlich zunichtezumachen, ließ ich die ungünstige Gelegenheit in der zweifelhaften Hoffnung auf eine bessere mir entgleiten. Auch als das Mädchen sich einige Zeit später wieder entfernte und bald außer Sichtweite war, verharrte ich in meinem Versteck. Die Fragen gingen mir durch den Kopf: nach ihrem Namen und ihrer Herkunft, danach, was sie gesucht hatte und wohin sie nun zurückkehren würde. Ob sie auch einsam war.

Dann aber kam ich zu Sinnen. Was war ich für ein Narr! Ein Feigling! Ich sprang auf, eilte und erklomm den nächsten Hügel und hielt Ausschau. Ich wandte mich in jede Richtung – doch war kein anthrazitfarbenes Haar, kein weißes Kleid auszumachen, kein Schatten auf dem Glanz des Aluminiums oder dem Schimmer des Plastiks oder dem Pfad aus Scherben, der weiter in den Norden führte. Ich seufzte, doch sogleich wurde mir klar: Wenn sie, wie ich, etwas suchte, das sie heute Nacht nicht finden konnte, würde sie morgen wiederkehren. Bis dahin würde ich mir überlegt haben, was ich tun, was ich sagen würde. Und wie ich den Mut dazu aufbringen würde. Im Herzen gleichenteils Reue und Hoffnung, machte ich mich auf den Rückweg.

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