Teil 35: Lass dich gehen

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Es folgte der Fünfzigste Geburtstag meiner Mutter. Wie geplant erschienen nur wenige Gäste. Wir verbrachten einen gemütlichen und sonnigen Tag, doch die gewohnte Geburtstagsstimmung kam nicht auf. Um ehrlich zu sein, hatte das auch niemand erwartet. Ich denke, dass uns allen bewusst war, dass dies der letzte Geburtstag meiner Mutter sein würde. Mit diesem Wissen im Hinterkopf fiel es uns schwer zu feiern. Eigentlich hätte ich gerne mit jemandem über diesen Tag gesprochen, doch ich wusste, dass mir das nichts bringen würde. Ich war davon überzeugt, dass meine Familie mir ohnehin nicht helfen konnte, schliesslich befanden sie sich alle in derselben Situation. Auch mit Noah und Jakob wollte ich nicht darüber sprechen. Noah vertrat nämlich die absurde Einstellung, dass es keine Traurigkeit gäbe und wie Jakob mit solcher umging, habt ihr bereits gelesen. Da blieb nur noch Till. Er wandelte Traurigkeit nicht in Wut um und bezweifelte schon gar nicht erst ihre Existenz. Wenn Till traurig war, war er einfach traurig. Allerdings sollte ich nicht mit ihm sprechen. Ich wollte ihn nicht von seinem Glück ablenken. So sprach ich mit niemandem über meine derzeitige Situation. Stattdessen stellte ich mir die Frage: „Was zur Hölle ist Traurigkeit überhaupt?"

Solche Fragen hatte ich mir als Kind nie gestellt. Als Kind hatte ich einfach gelebt. Ich lachte, ich weinte und ich fragte nicht nach den Gründen dafür. Ich wollte wissen, wie unsere Welt funktioniert, doch ich kratzte nur an der Oberfläche. Aber ist das nicht die Schönheit der Kindheit? Diese Sorglosigkeit? Wieso verliert man diese Sorglosigkeit? Warum sind die einzigen Überbleibsel der Kindheit unsere Erinnerungen? Warum werden wir gezwungen alles andere hinter uns zu lassen? Am 50. Geburtstag meiner Mutter fühlte ich mich das erste Mal in meinem Leben verloren. Zuvor hatte ich immer eine Art von Zugehörigkeit verspürt. Schon lustig, wie Gefühle innerhalb einiger Minuten verfliegen können. Vielleicht wird deshalb so wenig hinterfragt. In solchen Zeiten beneidete ich Noah. Noah hinterfragte nicht, er lebte. Er lebte wie ein Kind. Doch auch er veränderte sich. Ich hatte das Gefühl, dass er von Zeit zu Zeit gefühlloser wurde. Er schien nicht zu lieben oder zu trauern, Mitgefühl war von ihm kaum noch zu spüren. Niemand fragte wieso.

Lustigerweise bin ich mir doch ziemlich sicher, dass ein Mensch gar nicht gefühllos sein kann. Noah musste etwas gefühlt haben. Leider habe ich ihn nicht danach gefragt. Ich war zu beschäftigt. Ich war zu beschäftigt mit mir selbst. Schliesslich fühlte ich auch. Allerdings konnte ich meine Gefühle meist gar nicht definieren. Heute frage ich mich, ob dies überhaupt nötig ist. Auf eine Antwort bin ich noch nicht gestossen. Vermutlich ist die ganze Scheisse situationsbedingt. Noah hätte es bestimmt geholfen, seine Gefühle zu definieren. Aber das wussten wir damals noch nicht.

Am Geburtstag meiner Mutter gelang es mir immerhin zu definieren, dass ich mich verloren fühlte. Natürlich war mir bewusst, dass mich das alleine nicht weiterbringen konnte. Aber eigentlich war es mir egal. Eigentlich war mir sogar alles egal. Und so liess ich mich gehen. In den folgenden Tagen verstaubte mein Zimmer, meine schmutzigen Kleider stapelten sich und ich entwickelte mich immer mehr zu einer Unansehlichkeit. Drauf geschissen. Ich dachte mir nur: „Ich darf das, meine Mutter stirbt."

Die Musiker und die Realität - VorbandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt