SECHS

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Das Techtelmechtel mit Raphael und mir wurde ernster. Nachdem wir abends essen gegangen waren, hatte er es irgendwie geschafft, sich zu mir einzula­den, und wir waren anschließend zusammen in mei­ner Wohnung geblieben. Am Dienstag, einen Tag vor Weihnachten, frühstückten wir zusammen und fuhren dann zur Villa. Tatsächlich ließ er mich den halben Tag arbeiten, aber alle halbe Stunde unterbrach er mich, um mich zu küssen, zu umarmen oder mir zu sagen, dass er mich schon vermisste.

»Ich stelle dir jetzt eine furchtbare Frage«, kündigte ich an. Wir standen gerade eng umschlungen im Gästezimmer. Die Malerfolie knisterte leise unter uns. Der Geruch von Farbe hing im Raum, aber Raphaels Duft war viel präsenter. Ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn ansehen zu können. »Was ist mit Weihnachten?«

»Weihnachten? Also, das ist ein Fest, das die Christen im Gedenken an Jesu Geburt feiern. Wird auch als Fest der Liebe bezeichnet. Man beschenkt sich, stellt einen Weihnachtsbaum auf, ...«

Ich kniff ihn leicht in den Rücken. »Du weißt, wie ich das meine.«

Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Wie stellst du es dir denn vor? Wir machen es so, wie du dich am wohlsten fühlst.«

Ich fand es zu früh, Raphael meinen Eltern vorzu­stellen, obwohl ich ihn diesem Moment vom Fleck weg geheiratet hätte. Es war Wahnsinn, wie vertraut wir uns schon waren. Als schlügen unsere Herzen im gleichen Takt. »Lass uns doch zusammen frühstücken und irgendetwas unternehmen, und nachmittags fahre ich zum Trauerspiel zu meinen Eltern. Was ist mit deinen Eltern?«

Er ließ sich viel Zeit, bis er antwortete. »Vielleicht sollte ich mal wieder vorbeischauen.«

Ich hakte nach. »Wie verbringst du Weihnachten denn sonst?«

»Meistens ... bin ich unterwegs«, sagte er auswei­chend. »Meine Eltern und ich stehen uns nicht so nah.«

»Hast du eigentlich Geschwister?«

Er nickte. »Eine Schwester und einen Bruder. Wir telefonieren Weihnachten meistens. Meine Schwester hat zwei Töchter und feiert Weihnachten fast immer mit ihrer Familie.«

»Und dein Bruder?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Das letzte Mal hab ich Weih­nachten von ihm gehört, und das ist morgen ein Jahr her.«

Ich sah ihn skeptisch an. »Also auch so ʼne zerrüt­tete Familie.«

Das brachte ihn zum Lachen. »Die wenigsten Fa­milien sind voller Harmonie.« Er wurde durch das Klingeln seines Handys unterbrochen und warf einen raschen Blick auf das Display. »Moment, da muss ich rangehen.« Mit dem klingelnden Handy verließ er den Raum und ich hörte ihn die Treppen hinuntereilen.

Statt zu warten, bis er sein Gespräch beendet hatte, machte ich dort weiter, wo ich aufgehört hatte. Ich riss die Tapeten Stück für Stück von der Wand und summte dabei leise vor mich hin. Bei dieser Art von Arbeit war ich meinen Gedanken völlig ausgeliefert. Wie konnte es sein, dass dieser Mann mir Bauchkrib­beln verursachte, ohne dass ich ihn wirklich kannte? Wer steckte wirklich hinter diesen Augen?

Ich hatte Angst, mich auf ihn einzulassen, und gleichzeitig wollte ich mich ihm mit Haut und Haaren hingeben. Die Erfahrungen der Vergangenheit lehrten mich Vorsicht, aber ich wollte nicht auf sie hören.

Raphael kam wieder ins Gästezimmer. »Das war Herr Gloeckner«, erklärte er. »Ich muss nochmal schnell weg, es dauert nur ein paar Stunden.«

Ich zog am Ende der Tapetenbahn und löste sie vorsichtig von der Wand. »Ist gut.«

Doch statt zu gehen, druckste Raphael herum. »Ich wollte dir übrigens schon seit ein paar Tagen etwas sagen.« Wollte er seine Beichte ablegen? So klang es jedenfalls.

Liebe ist VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt