Kapitel 1 - Olódùmarè

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         Atlantischer Ozean, Westafrika-Westindien-Passage, 24. Dezember 1790

        Der siebzehnjährige Mokabi erwachte aus tiefer Trance. Sein treuer Gefährte Akinyele, der wie Mokabi in Fußketten und Handfesseln auf den kalten, wurmstichigen Schiffsplanken kauerte, hatte ihm einen schmerzhaften Rippenstoß versetzt.

        „Wach auf“, murmelte Akinyele, „der Schlächter ...“ Verstohlen, beinahe unmerklich, wies er mit seinem Kinn nach vorn.  Mokabi, nach der unsanften Unterbrechung seiner Meditation noch etwas benommen, riss sich zusammen. Angstvoll blickte er dem Aufseher entgegen, der auf dem Sklavendeck seine Runde machte. Er hatte einen dicken Wanst, einen wulstigen, behaarten Nacken und den dumpfen Blick eines einfältigen und gewalttätigen Mannes. Die Peitsche ließ er nervös durch seine Finger gleiten.

        Vor etwa zwei Wochen hatte der altersschwache Schoner Zong, dessen Frachträume in den engen Zwischendecks bis zu vierhundert Sklaven fassten, im Hafen von Quidah*(1) die Anker eingeholt und Kurs auf die ferne Insel Hispaniola genommen. Seitdem lichteten sich die Reihen der Gefangenen täglich. Hunger und Kälte hatten zahlreiche Todesopfer gefordert, doch nicht wenige starben durch die Hand des Schlächters, dem Misshandlungen mit der Peitsche ein besonderes Vergnügen bereiteten. Seine Opfer wählte er willkürlich aus, manchmal mehrere an einem einzigen Tag.                                                                                                                                

        Hispaniola, so behaupteten einige der Gefangenen, läge am anderen Ende der Welt, und selbst wenn die Zong gute Fahrt machen sollte, werde man noch zwei oder drei Wochen auf See  verbringen  müssen. Und während dieser Zeit, so flüsterten sie, würde auch noch der Rest von ihnen sterben; die Frage war lediglich, auf welche Art und Weise: entweder hübsch nacheinander wie bisher, oder alle gemeinsam, falls der alte, halbverrottete und kaum noch seetaugliche Kahn mit Mann und Maus unterging, weil der Schiffsbohrwurm sich ungehindert durch die Schiffswände fraß.

        Der Schlächter näherte sich schlurfenden Schrittes und versetzte allen Sklaven, die der Schlaf gnädig ihren peinigenden irdischen Fesseln entrückt hatte, einen kräftigen Fußtritt und murmelte mürrische Worte dazu.

        Mokabi zitterte am ganzen Körper, obwohl er sich bemühte, seine Angst zu verbergen. Wenn der Schlächter sein Gebet bemerkt hatte, würde er sterben müssen. Die Aufseher hatten Befehl, jeden Sklaven über Bord zu werfen, der seine heidnischen Götter anrief, und der Schlächter war mehr als erpicht darauf, seinen Befehlen Folge zu leisten.

        Die anderen Aufseher ließen, sofern ihre Herren nicht in der Nähe waren, die Gefangenen gewähren. Diese armen Teufel würden auf Hispaniola ohnehin die Hölle auf Erden erleben; sollten sie also ruhig beten. Außerdem mussten die Handelsbedingungen erfüllt werden, was bedeutete, dass nicht die gesamte Ware über Bord gehen durfte. Die Versicherungen zahlten nicht gern für verloren gegangene Sklaven, denn die Beweislage bei Verlusten während transatlantischer Transporte war äußerst schwierig. Lloyd vermutete in solchen Fällen grundsätzlich Betrug. Man musste sich wirklich fragen, wozu man die Fracht überhaupt versicherte.

         Der Schlächter schlurfte vorbei. Mokabi atmete auf.

        „Welchen der mächtigen Orisha hast du gerufen?“, wollte Akinyele wissen, als der Aufseher außer Hörweite war. Seine Frage war ein kaum verständliches Flüstern gewesen. Auch Akinyele hatte Angst.

        Mokabi senkte den Blick. Er hatte etwas Ungeheuerliches getan. Beklommen dachte er daran, dass nicht einmal geweihte Priester es je gewagt hatten, Olódùmarè, den Schöpfer und höchsten aller Götter, anzurufen. Mokabi hatte es gerade getan. Er wusste nicht, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, doch in seiner Verzweiflung hatte er diesen Weg gewählt. Die Anrufung der anderen Orisha*(2) hatte nicht geholfen – es wunderte ihn keineswegs, denn er besaß keine Gaben, die er ihnen hätte opfern können. Olódùmarè verlangte keine Opfer. Nach Anrufung durch Sterbliche verlangte es ihn jedoch ebenso wenig, das wusste Mokabi.

        Immerhin, er war noch am Leben. Zu viele seiner Landsleute waren auf diesem Schiff durch Hunger und Kälte gestorben oder grausam ermordet worden. Mokabi wünschte sich, zu leben; andererseits wäre ihm der Tod an manchem dieser dunklen Tage willkommen gewesen. Nur wollte er keinesfalls auf diese Weise sterben, sondern als stolzer Krieger Oyos*(3), in allen Ehren und nach ruhmreichen Taten. Schon als Kind hatte er alles daran gesetzt, ein Krieger zu werden. Und nun war er als Gefangener des Reiches Dahomey mit seinen Gefährten an europäische Sklavenhändler verkauft worden.

        Die Schmach über seine Gefangennahme hatte Mokabis Kriegerehre tiefe Risse zugefügt. Er hatte sein Dorf beschützen wollen, denn es lag weit im Osten Oyos, dicht an der Grenze zu Dahomey, und zwischen den Königreichen gärte ein ständiger Konflikt – ein Schwelbrand, der sich jederzeit entzünden und in ein loderndes Buschfeuer umschlagen mochte. Der unheilvolle Brodem des Krieges lag in der Luft, seit Mokabi denken konnte. So war es schon immer gewesen, er kannte es nicht anders.

        Und darum waren Mokabi und seine Freunde jede Nacht auf der Hut gewesen, während die Frauen, Kinder und Alten in ihren Hütten schliefen und auf ihren Schutz vertrauten. Dem ältesten Sohn des Häuptlings, der zwei Dutzend mit Lanzen und Speeren bewaffnete Männer anführte, kam hierbei die größte Verantwortung zu; entsprechend groß war auch seine Schande für den Fall, dass er bei der Erfüllung seiner Pflicht versagte. Und der älteste Sohn des Häuptlings, das war er, Mokabi.

        In jener verhängnisvollen Nacht waren die jungen Krieger in einen Hinterhalt der Amazonen-Armee*(4) Dahomeys geraten. Diese grausamen, schwer bewaffneten Mannweiber töteten bekanntlich ohne Erbarmen. Sie machten niemals Gefangene und ließen auch keine Verletzten zurück; vorzugsweise hieben sie ihren Gegnern auf der Stelle den Kopf von den Schultern. Für Mokabi und seine Leute waren die Amazonen jedoch von ihrer üblichen Vorgehensweise abgewichen. Kräftige junge Männer waren bei den Sklavenhändlern in den großen Hafenstädten sehr begehrt und brachten Gold in Dahomeys Staatskassen. Und so waren der Häuptlingssohn und seine Kameraden wie Schweine auf dem Viehmarkt zur Begutachtung vorgeführt und meistbietend verschachert worden. Er hätte lieber seinen Kopf im Kampf verloren als diese Demütigung ertragen.

         Mokabi schloss die Augen. Er würde erneut zu Olódùmarè beten, wieder und wieder, so oft es ihm gefahrlos möglich schien. Doch würde er nicht mehr um sein Leben und das der anderen Männer bitten, sondern lediglich um Schutz.

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*(1) Küstenstadt des ehemaligen westafrikanischen Königreiches Dahomey (heute Benin), damals der wichtigste Umschlagplatz für Dahomeys florierenden Sklavenhandel. Zahlreiche Abnehmer für die menschliche Ware fanden sich in Europa, Amerika und auf den westindischen Inseln.

*(2) Orisha: Götter der Yoruba-Religion, beheimatet in großen Teilen Westafrikas

*(3) Das ehemalige westafrikanische Königreich Oyo erstreckte sich über weite Teile des heutigen Nigeria. Das benachbarte Dahomey war Oyo gegenüber tributpflichtig, doch hatte es seine Unabhängigkeit als eigenständiges Königreich behalten. Beide Staaten konkurrierten heftig im  transatlantischen Sklavenhandel und dezimierten jeweils die Bevölkerung des gegnerischen Reiches, um die Gefangenen an betuchte Kunden in Übersee zu verkaufen.

*(4) Eine Elitekampfeinheit des Königs von Dahomey, die auch seine persönliche Leibgarde stellte.

LOA - Die weiße Mambo [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt