24. Kapitel

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Kiera:

Hier war ich nun. Ich tanzte mit Nathan jetzt schon zum dritten Lied, wobei mir auffiel, dass er sich besonders heute viel Mühe gegeben und mich mit einem Strauß roter Rosen vor meiner Zimmertür überrascht hatte. Er schien sich wirklich anzustrengen mir zu imponieren, weshalb ich mich fragte, ob er sich schuldig fühlte, weil er sich die letzten Tage nicht bei mir gemeldet hatte, oder ob etwas anderes dahinter steckte. ,,Du siehst wunderschön aus, Kiera", hatte er gesagt, während mir der angenehm süße Duft der frischen Rosen in die Nase stieg. Anstatt höflich >Danke< zu sagen, so wie ich es normalerweise getan hätte, forderte ich eine Antwort auf folgende Frage:,,Wo bist du gewesen?" Natürlich konnte er nicht wissen, dass ich bereits mehr oder weniger die ganze Geschichte kannte und Luke und Bob würden ihm sicher nicht erzählen, dass sie mich mit Informationen versorgt hatten. Als er mehrere Sekunden mit seiner Antwort zögerte, hörte ich alles, was in seinem Kopf vorging:,,Wie soll ich es ihr erzählen? Ich will nicht, dass sie die Wahrheit erfährt..." Aus seinen Gedanken hatte ich schließen können, dass er mir irgendeine Lüge auftischen wollte, aber das, was dann kam, war viel schlimmer als eine Lüge. ,,Es ist kompliziert...du würdest es sowieso nicht verstehen." Na schönen Dank auch, Nathan! Ich verstand nur zu gut, was er damit bezwecken wollte, hielt aber meine Klappe, da ich uns den Abend nicht mit einem unnötigen Streit ruinieren wollte. Ich versuchte so gut es ging meine Enttäuschung darüber, dass er es vorzog mir die Wahrheit zu verschweigen, zu verbergen, aber als das vierte Lied anlief, schien er zu bemerken, dass sich zwischen uns, obwohl wir uns beim Tanzen nahe waren, eine gewisse Distanz, wie eine Mauer, die immer höher und höher wird, aufbaute. ,,Was ist heute mit dir los?" Bei dieser Frage konnte ich mir ein verächtliches Lachen nicht verkneifen:,,Mit mir? Die Frage ist wohl eher, was mit dir los ist, Nathan!" Als er weder antwortete, noch Anstalten machte mir die wahre Geschichte zu erzählen, löste ich mich von ihm und ging langsam, da ich in den hohen Schuhen nicht riskieren wollte hinzufallen, von der Tanzfläche, um mich auf einen Stuhl am Rande der improvisierten Cocktail-Bar nieder zu lassen. ,,Darf es etwas sein, Miss?", fragte mich einer der Kellner. Ohne groß darüber nachzudenken bestellte ich mir eine Kiba, die er mir wenige Minuten später mit einem höflichen ,,Bitte sehr", an den Tisch stellte. Diese Mischung aus Kirsch- und Bananensaft war jetzt genau das richtige, um mich auf andere, frischere Gedanken zu bringen. ,,Wow, wenn dieser Anblick nicht jedem im Saal den Atem verschlägt, dann versteh ich die Welt nicht mehr!" James stand vor mir und musterte mich mit einem Lächeln auf den Lippen, ehe er sich zu mir setzte. ,,Du siehst aber auch nicht schlecht aus", gab ich zurück, was wirklich nicht gelogen war, denn in seiner Prinzverkleidung zog er nicht nur meinen Blick auf sich, sondern auch den von ein paar Mädchen, die wenige Meter von unserem Tisch entfernt standen und ihm andauernd zulächelten. ,,Ist das dein Fanclub?", scherzte ich, wobei er lachen musste, bevor er mit einer kecken Frage zurückschlug:,,Etwa eifersüchtig?" Ich errötete leicht, als ich ihm antwortete:,,Träum weiter, James!" Er lächelte mich an und ich erwiderte sein Lächeln von seiner Freude angesteckt. ,,Wieso sitzt du hier eigentlich so allein? Kümmert sich Nathan etwa nicht genug um dich?" Seine Frage war scherzhaft formuliert, aber als er bemerkte, dass er damit genau ins schwarze traf, fuhr er schnell fort:,,Wie dem auch sei, eigentlich bin ich hier, um meinen versprochenen Tanz einzufordern. Würdest du mir die Ehre erweisen?", er stand auf, verbeugte sich und reichte mir seine Hand, die ich dankend ergriff. Als er mich auf die Tanzfläche führte, begann die Band einen langsameren Song zu spielen, der noch dazu einer meiner Lieblingssongs war: Arctic Monkeys - No. 1 Party Anthem. Wir tanzten eng umschlungen und ich stellte fest, dass er ein Talent fürs Tanzen besaß. Beim Refrain konnte ich nicht anders, als mit zu singen:,,Come on, come on, come on! Number one party anthem!" Auch James kannte erstaunlicherweise den Text- naja jedenfalls Teile davon-, weshalb er in der Mitte der zweiten Strophe auch anfing zu singen:,,It's not like I'm falling in love. I just want you to do me no good!" Ich musste zugeben, dass die Band wirklich gut war- obwohl deren Leadsänger keine ganz so raue Stimme wie Alex Turner hatte. Als er mich am Ende des Songs ausdrehte und mir tief in die Augen schaute, meinte ich fast schon, dass er mich küssen wollte, aber in letzter Sekunde wich er zurück. ,,Danke für den Tanz." Er deutete abermals eine leichte Verbeugung an. ,,Die Ehre war ganz auf meiner Seite", gab ich in einer betont königlichen Stimme zurück. ,,Ich denke ich sollte jetzt wieder zurück zu Rosalie gehen. Sie wartet nicht gerne alleine." Natürlich waren die beiden, wie ich es vermutet hatte, als Dornröschen und ihr Prinz gekommen. Sie war mit ihrem rosanem Kleid und ihren strahlend blonden Haaren eine echte Schönheit im Vergleich zu mehreren anderen Dornröschen hier in der Halle. Ich hoffte bloß, dass James sie nicht wach küssen musste, wenn sie vor Langeweile eingeschlafen sein sollte. ,,Bis dann", antwortete ich knapp und entfernte mich, genauso wie er, von der Tanzfläche.
Ich stand an der Bar und beobachtete all die glücklich tanzenden Paare- darunter waren auch Summer und Liam. Ihr Make-up war anders, als vorhin beim Abendessen, weshalb ich mich fragte, ob irgendetwas vorgefallen war. Ich würde sie später noch fragen, aber jetzt sollte sie die Zeit mit Liam genießen. Ich seufzte und beschloss zurück zu Nathan zu gehen. Aber wo war er überhaupt? Unter den Leuten auf der Tanzfläche konnte ich ihn nicht ausmachen und auch am Rande der Bar war weit und breit kein schwarzer Ritter zu sehen. In einer etwas dunkleren Ecke meinte ich ihn gesehen zu haben, aber es war nur ein Kellner, der eine seiner Kontaktlinsen auf dem Boden suchte. Ich wollte schon wieder gehen, da fiel mir auf, dass sein Auge rötlich leuchtete. Kein Zweifel, es war der Junge aus dem Wald! Ein Transmitist! Komischerweise hatte ich keine Angst vor ihm, aber vielleicht lag das auch daran, dass er diesmal nicht eine schwarze Kaputze über dem Kopf hatte, sondern wie alle anderen Kellner, die hier arbeiteten, gekleidet war. Ich ging unauffällig um die Ecke und tat so, als ob ich jemanden suchen würde - naja, eigentlich suchte ich ja auch Nathan. Von meinem neuen Standpunkt aus konnte ich ihn beiläufig beobachten und versuchte gleichzeitig seine Gedanken zu lesen:,,Diese blöde Linse! Ah, da ist sie ja! Jetzt muss ich schnell zu den anderen!" Ich sah ihn weglaufen und ging ihm so schnell, wie es mir eben in diesen hohen Schuhen möglich war, hinter her. Er ging aus der Reithalle hinaus und verschwand wie ein Schatten in der Dunkelheit. Gleich darauf, war auch ich draußen angekommen, aber von dem Jungen war keine Spur mehr, jedoch konnte ich seine Gedanken immer noch hören:,,Wo haben sie sich denn diesmal versteckt? Hinter der großen Tanne neben dem Johannesbeerbusch? Welcher Busch?" Ohne Zweifel ging er in den Wald und ich hatte weniger Schwierigkeiten ihm zu folgen, sondern viel mehr ihn einzuholen. Was sollte ich überhaupt machen, wenn ich sie finden würde? Darüber hätte ich mir früher Gedanken machen müssen, denn jetzt war es zu spät. Ich sah den Transmitistenkellner vor einem Johannesbeerbusch stehen und ein wenig später kamen zwei dunkle Gestalten dahinter hervor. Ich beschloss mich in einem Gebüsch auf die Lauer zu legen und zu beobachten, was sie machten. ,,Und? Hast du ihn gefunden? Hast du es?", fragte eine der beiden finsteren Gestalten. ,,Ja und nein. Er weiß rein gar nichts, weshalb er für ATM nutzlos ist", antwortete er mit einem bedauernden Unterton. Von wem war hier bloß die Rede? Etwa von James? Er hatte gesagt, dass die Organisation >ATM-Nosce te ipsum< heißt. War er etwa ein Teil von ihr? Nein, das konnte einfach nicht sein. ,,Jason, diese Mission ist von höchster Wichtigkeit! Aber wenn du lieber dein ganzes Leben ein Transmitist bleiben willst, solltest du sie ruhig abbrechen...", sagte eindeutig eine Frauenstimme. ,,Ich habe nicht gesagt, dass ich sie abbrechen will! Aber was soll ich deiner Meinung nach tun?" Nach einem kurzen Moment der Stille, war die strenge Stimme des Mädchens wieder zu hören:,,Finde denjenigen, der weiß, wo es ist!" Ein leuchtend blaues Portal öffnete sich und die zwei Gestalten verschwanden darin, so als wären sie nie hier gewesen. Hatte John damals nicht auch etwas von einem blauen Portal gesagt, in dem der Transmitist verschwunden war? Als sich der Junge zum Gehen wandte, rappelte ich mich vom Boden auf, um genauso leise wie ich hierher gekommen war, zurück zu gehen. Leider funktionierte das nicht ganz so,wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich blieb mit meinem Absatz an einer Wurzel hängen und stolperte geradewegs vor die Füße des Transmitisten. In Gedanken fluchend stand ich auf, nur um in die überraschten Augen des Kellners zu blicken. ,,Das war echt das letzte Mal, dass ich Alkohol angerührt habe! An deiner Stelle würde ich jetzt nicht in das Gebüsch dort gehen..." Ich hoffte, dass er mir meine bühnenreife Schauspieleinlage abkaufen würde, aber dem war nicht so. Er warf mich auf den Boden und drückte mir seinen Unterarm an die Kehle, während er mir mit zusammegekniffenen Zähnen zuflüsterte:,,Was hast du gehört?" Ich beschloss mich erstmal dumm zu stellen:,,Ich weiß nicht, was du meinst..." Er lachte kurz auf, ehe er in einer bedrohlichen Stimme fortfuhr:,,Du brauchst mir nichts vor zu machen! Nenne mir einen Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle umbringen sollte!" Einen Grund? Denk nach, Kiera! DENK NACH! ,,Ich will dir helfen, Jason!" Hoffentlich hatte ich seinen Namen richtig mitbekommen und er würde fürs erste verwirrt sein. Bedauerlicherweise ließ er sich nichts dergleichen anmerken und ich konnte mich auch nicht genug konzentrieren, um seine Gedanken zu lesen oder gar in seinen Geist einzudringen. ,,Pff, du willst mir also helfen? Warum sollte ich dir glauben?" Ich dachte nach und sagte das erste, was mir in den Sinn kam:,,Ich bin eine von euch. ATM-Nosce te ipsum." Er schien mir noch nicht vollends zu glauben, lockerte aber seinen Griff. ,,Achja? Dann nenn mir doch mal das heutige Passwort?" Ein Passwort? War das vielleicht nur ein Trick und es gab überhaupt kein Passwort? Ich sammelte den letzten Rest meiner Kräfte, um mich auf seine Gedanken zu konzentrieren:,,Wenn sie jetzt >Apila non captat muscas< sagt, dann muss ich ihr wohl glauben, auch wenn ich sie noch nie bei einer der großen Versammlungen gesehen habe..." Es gab also doch ein Passwort und nun kannte ich es. ,,Apila non captat muscas", sagte ich mit ernster Stimme, worauf er seinen Arm von meiner Kehle nahm und mir vom Boden aufhalf. ,,Tut mir leid, aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Wie heißt du eigentlich?" Ich beschloss ihm nicht meinen richtigen Namen zu nennen, sondern den Namen meiner kleinen Schwester:,,Ich heiße Ruby." Nun schaute er mich nicht mehr misstrauisch, sondern freundlich an. ,,Und, Ruby, wie lange bist du schon dabei? Ich habe dich noch nie bei irgendeiner unserer Besprechungen gesehen." War das ein Verhör? ,,Das liegt daran, dass ich verdeckt ermittle. Ich bekomme meine Anweisungen aus erster Hand und bis jetzt hatte ich bei jeder meiner Missionen Erfolg." Wow, ich war eine exzellente Lügnerin! Vielleicht hat sich das mit meiner Gabe entwickelt? ,,Ich wusste gar nicht, dass unser lieber Morgan seine Anweisungen persönlich gibt?" War das eine Fangfrage? Ich beschloss sicherheitshalber seine Gedanken zu lesen:,,Unsere Anführerin heißt Morgana, wenn sie das nicht weiß, ist sie wohl doch eine Hochstaplerin..." Manche Gedanken von Menschen sind sehr auskunftsreich. ,,Morgan? Kennst du nicht einmal unsere Anführerin MorganA?! Kein Wunder, dass du bei dieser Mission versagst, aber wenn du meine Hilfe nicht willst ist es dein Pech..." Ich war mir sicher jetzt würde ich ihn endgültig überzeugt haben, weshalb ich Anstalten machte weg zu gehen. ,,Warte! Ich will deine Hilfe! Das war nur ein weiterer Test!" Ich bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick:,,Ein weiterer Test, schon klar, haha. Morgana hatte recht, als sie sagte, dass auf manche Transmitisten einfach kein Verlass sei." Ich war in meiner Rolle als Ruby, die Transmitistin, wirklich aufgegangen. ,,Bitte hilf mir! Ich muss diese Mission erfolgreich abschließen! Bitte!",flehte er mich an, wobei ich mir ein zufriedenes Grinsen verkneifen musste. ,,Na gut, aber wenn irgendjemand fragt, hast du diese Mission alleine erledigt und du kennst mich nicht, verstanden?" Er nickte wie einer dieser Wackelkopf-Dackel und ich begann durch einen geschickten Plan seine Zielperson auszumachen.. ,,Gut, dann lass uns anfangen. Da wir beide schon in unseren Verkleidungen sind, sollten wir als erstes wieder hinein gehen. Danach fragst du unsere Zielperson, ob sie etwas trinken will und den Rest übernehme ich, okay?" Wieder nickte er energisch und so gingen wir wieder hinein- ich durch den Vorder- und er durch den Hintereingang. Am Rande der Cocktail-Bar sah ich endlich Nathan und zwängte mich an mehreren Leuten vorbei, um zu ihm zu gelangen. Aber Jason kam mir zuvor und fragte ihn, ob er etwas trinken wollte, was dieser dankend ablehnte. Nathan war die Zielperson? Was konnten sie denn von ihm haben wollen? ,,Hey, wollen wir nochmal tanzen? Ich-", er unterbrach mich mitten im Satz. ,,Es tut mir leid wegen vorhin. Lass es uns einfach vergessen, in Ordnung?" Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Nathan strengte sich heute echt an, wenn er sich sogar bei mir entschuldigte, obwohl ICH ihn allein auf der Tanzfläche stehen gelassen hatte. Er hatte seinen Helm bereits abgenommen- vielleicht war ihm darunter zu warm geworden- und nun führte er mich auf die Tanzfläche. Zu meiner Überraschung begann er diesmal von sich aus alles zu erzählen:,,Mein kleiner Bruder hatte einen schlimmen Autounfall, an dem ich nicht ganz unschuldig war. Unsere Eltern waren zu dieser Zeit auf Geschäftsreise und mein Bruder und ich waren alleine mit einem ausländischem Kindermädchen zu Hause. Kurz davor hatten wir uns wegen irgendeiner Kleinigkeit gestritten, ich weiß schon gar nicht mehr was es war, auf jeden Fall habe ich dann zu ihm gesagt, dass ich wünschte, er wäre nie geboren worden und dass unsere Eltern mich immer mehr geliebt haben als ihn. Das stimmte nicht, in Wahrheit war er immer der Lieblingssohn, weil er, ich zitiere > viel netter und hilfsbereiter als Nathan< ist." Ich erinnerte mich daran, wie er darauf bestanden hatte meine schwere Shoppingtasche zu tragen oder wie er mich vor Lukes Attacke gerettet und von dem Transmitisten Angriff geheilt hatte. Irgendwie hatte ich jetzt Mitleid mit Nathan. ,,Was danach passiert ist, habe ich erst erfahren, als die Polizei vor der Tür stand. Mein Bruder, er war damals 12, ist in Dads Cabrio gestiegen und wollte anscheinend zu unseren Eltern nach New York fahren. Er hatte nicht mal fünf Kilometer zurückgelegt, da fuhr ein Truck in sein Cabrio hinein. Er war sofort ohnmächtig und ist schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Ärzte waren sich nicht sicher, ob er es schaffen würde und haben ihn in ein künstliches Koma versetzt, aus dem er glücklicherweise letzten Mittwoch erwacht ist. Ich musste ihn sofort sehen und habe mich entschuldigt und endlich den Mut gefunden meinen Eltern zu erzählen, was wirklich vorgefallen ist. Ich kann dir nicht beschreiben, wie sie mich angeschaut haben, als sie es erfahren haben. Es war einfach schrecklich, sie waren so verletzt und traurig, weil ich nicht früher mit der Wahrheit herausgerückt habe. Den gleichen Fehler wollte ich nun bei dir auch nicht begehen. Jedenfalls hat sich alles zum Guten gewendet und meine Mutter hat gesagt, dass wir jetzt endlich wieder eine richtige Familie sein können." Nathan hatte wohl gar nicht bemerkt, dass ihm eine Träne herunter gelaufen war. Wir tanzten schon längst nicht mehr, sondern standen einfach in der Mitte der Tanzfläche zwischen ein paar anderen Tanzpaaren herum. ,,Wieso schaust du auf einmal so traurig?", fragte er mich besorgt. ,,Als ich dich das erste Mal gesehen habe, hielt ich dich für einen totalen Arsch, aber jetzt habe ich erkannt, dass du richtig nett bist...", gab ich leise zu. Er lächelte, beugte sich zu mir herunter und küsste mich sanft. Sofort erwiderte ich seinen Kuss und als mir eines der tanzenden Paare auf den Fuß trat, zog ich ihn von der Tanzfläche weg und nach draußen. Wir setzten uns auf eine Holzbank in der Nähe der Reithalle, sodass wir jeder Zeit wieder herein gehen konnten, wenn wir wollten. ,,Wofür war der Kuss?", fragte ich ihn vorsichtig. ,,Ich habe kein anderes böses Schneewittchen gesehen, du etwa?" Für einen Moment war ich enttäuscht. ,,Ohh...", gab ich leise zurück. Es ging also die ganze Zeit um die Wette, an die ich, um ehrlich zu sein, bei dem ganzen Trubel gar nicht mehr gedacht hatte. ,,Kiera, ich wollte dich doch nicht nur wegen der blöden Wette küssen. Der Moment hat einfach gepasst, findest du nicht?" Ich nickte und legte meinen Kopf auf seine Schulter. ,,Trotzdem würde es mich interessieren, was du mich gefragt hättest. Wenn du willst beantworte ich dir die Frage auch hundertprozentig mit der Wahrheit..." Meine eigentliche Frage hatte er ja beantwortet, also hatte ich nichts mehr, was ich ihn fragen konnte. ,,So wichtig war die Frage auch nicht, aber darf ich dich etwas anderes fragen?" Er nickte und so fuhr ich fort:,,Der Kellner, der vorhin bei dir war, was wollte er?" ,,Er wollte wissen, ob ich etwas trinken will, was sonst?", er schaute mich verwirrt an. ,,Ja, aber er war doch schon mal bei dir...was wollte er da?" Ich sah ihm an, dass er jetzt wusste, was ich meinte. ,,Er wollte etwas haben, was ich mal besaß. Ich konnte ihm nicht weiter helfen und wenn ich gekonnt hätte, hätte ich es ihm sicher nicht gegeben", er schien etwas verärgert zu sein und ich hoffte es war nicht wegen mir. ,,Was genau wollte er haben?" ,,Ein Familienerbstück, was mir Anfang des Schuljahres gestohlen wurde. Er gehört anscheinend zu dieser geheimen Organisation, die versucht uns auszuspionieren, deshalb habe ich auch gleich John informiert. Mach dir bitte keine Sorgen", er lächelte mich aufmunternd an und drückte kurz meine Hand. Im selben Moment kam Jason mit einem Tablett voller Getränke nach draußen und reichte uns zwei der Gläser:,,Bitte sehr. Auf so einen Abend muss man doch anstoßen!" Mit zwei braunen Augen sah er eigentlich ganz normal aus. Plötzlich kam John aus der Wand gerannt und schlug uns die Gläser aus der Hand. Ich bekam einen kleinen Schock, denn damit hatte ich wirklich nicht gerechnet - nicht dass ich überhaupt vorgehabt hatte dieses Gebräu zu trinken. ,,Jason, mein alter Freund, so sieht man sich wieder, nicht wahr? Ich wusste die ganze Zeit, dass du nicht tot bist! Und jetzt versuchst du meine Freunde zu vergiften?" John blickte ihn vorwurfsvoll an. ,,Ich wollte deine Freunde nicht vergiften. Alles was ich will ist der Kompass", stellte Jason klar. ,,Tja, wie schon gesagt: Er ist nicht mehr in meinem Besitz", meldete sich Nathan zu Wort. ,,Dann tut es mir leid, dass das hier passiert!" Jason sprang auf, zog mich mehrere Meter von John und Nathan weg, während er mir ein riesiges Messer an den Hals hielt. ,,Überlegt es euch gut: WO IST DER KOMPASS?", er schrie die beiden an, die anscheinend nicht wussten wie sie handlen sollten. Ich konnte Nathan ansehen, dass er irgendetwas tun wollte, John andererseits schien nicht einmal zu wissen, von welchem Kompass hier die Rede war. ,,Ich zähle jetzt bis drei und wenn ihr bis dahin noch immer nicht wisst, wer ihn haben könnte, wird ihr etwas zustoßen." Bei dem Gedanken daran, dass mir jemand gleich die Kehle aufschlitzen könnte, musste ich unwillkürlich zusammen zucken. Andererseits, würde Jason wirklich Morganas bester Agentin weh tun? Oh mein Gott, er würde! ,,Eins..., zwei..." Meine letzte Chance war in Nathans Geist einzudringen:,,Zu was ist der Kompass fähig?" Gleich darauf kam seine monotone Antwort:,,Man kann mit ihm in die Zeit zurück reisen." ,,Denkst du das weiß ich nicht?", Jason war für einen kurzen Moment abgelenkt und ich wollte schon zu einem Fluchtversuch ansetzen, als er ,,Drei" sagte. Es öffnete sich wieder ein blaues Portal und ich wurde zusammen mit Jason eingesogen. Das letzte, was ich hörte, war Nathan, der ,,Neeeeeiiiinnn!" schrie. Kurz darauf befanden wir uns in einem kleinen Zimmer mit Steinwänden und -boden. Die einzige Lichtquelle war ein kleines Fenster, auf dessen Bank eine Kerze flackerte. ,,Ich muss wieder zurück!", rief ich ihm zu. ,,Ruby, ich weiß, dass du noch nie aus einer Mission ohne Erfolg zurückgekehrt bist, aber es gibt immer ein erstes Mal", sagte dieser mit ruhigem Ton. ,,Aber Morgana-", begann ich erneut, aber er vollendete meinen Satz. ,,-wird dich sicher nicht deswegen bestrafen. Du solltest jetzt erstmal an den Regenerationsapparat."  Dem was? Hatte er gerade >Regenerationsapparat< gesagt? Was sollte ich mir darunter vorstellen? ,,Na gut, aber danach gehen wir wieder zurück zum Ball, okay?", fragte ich hoffnungsvoll. ,,Ich denke das wäre keine so gute Idee. Wir können die Mission auch noch wann anders fortsetzen." Super. Das bedeutete wohl, dass ich hier fürs erste festsaß. Meine Neugier brachte mich dazu ihm zu folgen. Aus dem Zimmer gelangten wir in einen langen Flur, in dem ein dunkelgrüner Teppich ausgelegt war und mehrere Lampen an den Wänden befestigt waren. Er blieb vor einer großen, braunen Tür mit der Aufschrift >Regenerationsraum< stehen und schaute mich fragend an:,,Willst du zuerst oder soll ich?" ,,Geh du ruhig zuerst, ich warte hier", sagte ich mit einem kleinen Lächeln. ,,Wie du willst. Ich schaffs schon fast ohne zu schreien", sagte er, ehe er den Raum betrat und die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Ich hielt seine letzte Aussage eigentlich für einen Scherz, aber als ich einen seiner markerschütternden Schreie hörte, war mir nicht danach selbst auszutesten, wie sich dieser Apparat wohl anfühlte. Stattdessen schrie alles in mir: WEG HIER! Ich lief panisch durch mehrere Gänge, bis ich mit einem Mädchen zusammenstieß. ,,Tut mir leid, ich hab dich nicht um die Ecke kommen sehen", sagte sie mit einem verlegenen Lächeln. ,,Kein Problem. Kannst du mir vielleicht helfen ein Portal zu der Midnight Academy aufzubauen?", fragte ich sie mit meiner nettesten Stimme. ,,Hast du etwa deinen Ring vergessen?" Meinen Ring? Ich musste dringend ihre Gedanken lesen:,,Ohne Ring kann man nicht alleine reisen oder Portale öffnen, weiß sie das nicht?"  Ich räusperte mich:,,Nicht direkt, ich bin so jemand, der immer seine Sachen verliert..." ,,Oh, das kenne ich. Einmal habe ich gedacht ich hätte meine Sonnenbrille verloren, aber dann hatte ich sie nur woanders hingelegt." Jaja, ich wollte nicht ihre ganze Lebensgeschichte hören, sondern nur einen Weg finden zurück zur Reithalle zu kommen. ,,Weißt du, wo ich einen neuen Ring bekommen kann?", fragte ich sie, bevor sie mir von ihrer entlaufenen Katze erzählen konnte. ,,Ja, sicher. Du musst zu Mitchell! Ihm wurde vor kurzem ein neuer Raum zugeteilt, wenn du willst führ ich dich hin." Ich nickte dankend und folgte ihr einen weiteren, scheinbar endlos langen Gang entlang. ,,Ich bin übrigens Bonnie." Sie streckte mir ihre Hand hin und ich schüttelte sie:,,Mein Name ist Ruby." ,,Nett dich kennen zu lernen, Ruby. Schickes Kleid hast du da an! Ich hatte mal so ein ähnliches." Sie schien freundlich zu sein, aber für meinen Geschmack redete sie viel zu viel. Als sie mich vor einem Raum mit der Aufschrift >Schmiede< absetzte, bedankte ich mich kurz, ehe wir uns verabschiedeten. Ich klopfte zweimal an und wartete ab. Als niemand etwas sagte, klopfte ich abermals zweimal. ,,Herein!" Ich öffnete die Tür und kam in einen Raum, der einer gewöhnlichen Schmiede nicht im geringsten ähnelte. Ein junger Mann - vielleicht Mitte 20- drehte gerade einen goldenen Ring zwischen seinem Daumen und Zeigefinger und betrachtete das Exmeplar eingiebig, ehe er sich mir zuwandte. ,,Was kann ich für dich tun?" Sein Lächeln wirkte einladend, aber das konnte genauso gut eine Fassade sein. ,,Ich fürchte, ich habe meinen Ring verloren. Kann ich einen neuen bekommen?" Er schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an:,,Jetzt sofort? Wohl eher nicht. Den nächsten Ring kann ich bis frühestens morgen fertigstellen. Zuerst muss ich die Größe deines Ringfingers abmessen, wenn du also so nett wärst..?", er bedeutete mir mich zu setzen und ihm meine Hand zu geben. Nach ein paar Messungen war es auch schon vorbei. ,,Gut, jetzt brauch ich nur noch deinen Namen und du kannst ihn morgen früh abholen!" ,,Ruby Clarke", antwortete ich zögerlich und er notierte sich meine Bestellung in einem kleinen Notizheft. ,,Danke. Bis morgen!", mit diesen Worten ging ich wieder zurück auf den Flur, ohne genau zu wissen, wo ich war oder was ich nun tun sollte. Ich dachte ernsthaft darüber nach bis zum Morgen vor der Tür sitzen zu bleiben, da ich wohl kaum noch einmal hier her finden würde. Außerdem war ich schon müde und als ich mich hinsetzte, musste ich feststellen, dass der Teppich weicher war, als er aussah. Ich versuchte angestrengt wach zu bleiben, aber bei all den heutigen Geschehnissen war es kein Wunder, dass ich nach einigen Minuten im Land der Träume versank.

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