Kapitel 21

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Mila

Ich werfe keinen einzigen Blick auf das Haus auf der anderen Straßenseite, während ich meine Kartons von der Ladefläche des Pick-ups hole und in mein vorübergehendes neues oder aber auch altes Zuhause trage. Trotzdem weiß jede Faser meines Körpers, dass dieses Haus auf der anderen Seite da ist und das fühlt sich grauenvoll quälend an, deswegen beeile ich mich damit, fertig zu werden.

»Ich kann dir trotzdem helfen«, meint Josh murrend, während er mich vom Sofa aus beobachtet.

Ich stelle den Karton ab, den ich eben hereingetragen habe, dann klopfe ich auf den Gips an Joshs Bein. »Ich bin hier, um dir zu helfen«, weise ich ihn hin. Hättest du dich nicht mit deinem Motorrad übernommen ...«

» ... dann wärst du jetzt wo genau?«, fragt er grinsend und zieht beide Augenbrauen hoch.

Ich mustere ertappt die vielen Tattoos überall auf seinem Körper. Josh erinnert mich so sehr an Julian, dass es mir schwerfällt, ihn anzusehen und ich mich manchmal daran erinnern muss, dass er mein Bruder ist. Er ist vor einem Monat wieder nach Riverside gezogen, um sich seinen Traum von einem eigenen Studio zu erfüllen. Eins, das nicht in der Masse von Studios in Seattle untergeht. Er will, dass seine Körperkunst eine Chance hat, als das entdeckt zu werden, was sie ist: besonders. Josh hat sich eine winzige Fangemeinde aufgebaut mit seinen Aquarell-Tattoos. Aber er hasst die Szene in Seattle und wollte unbedingt zurück nach Riverside. Ich bin sicher, was er wirklich hasst, ist die Verlockung, in seinen alten Freundeskreis abzurutschen. Ich glaube, in Riverside hat er sich damals sicherer gefühlt, deswegen ist er jetzt wieder hier.

Ich verziehe das Gesicht. »Ich weiß es nicht.« Josh hat recht, ich konnte weder bei Rick noch bei Dana bleiben und für eine eigene Wohnung in Seattle reicht mein Einkommen als Autorin noch lange nicht aus. Und die Stelle als Assistentin in der Kanzlei war so unterbezahlt, dass man es kaum als mehr Bezeichnen konnte, als eine Praktikantenstelle. Ohne Ricks Gehalt bin ich also obdachlos. Und das Haus in Riverside ist derzeit meine einzige Chance auf ein Dach über dem Kopf. So ungern ich hier sein möchte wegen all der Erinnerungen, die durch diese eine Nacht mit Julian wieder so frisch sind, als wäre alles erst gestern passiert, aber ich beruhige meine Nerven damit, dass Julian seit vier Jahren nicht hier war und wohl so schnell auch nicht zurückkommt.

»Im Moment kannst du nichts anderes tun und ich brauche dich gerade, sonst kann ich nicht pünktlich eröffnen. Und ich habe schon Termine«, sagt er stolz grinsend.

»Was, kommt die halbe Footballmannschaft von damals?«

»In etwa, wobei ich glaube, sie wollen nur eine richtige Einweihungsparty von mir.«

Ich lasse mich neben Josh auf das Sofa sinken und sehe mich in dem Wohnzimmer um. Als wir damals weggezogen sind, haben wir alles so hinterlassen, wie es war. Wir haben nur die Möbel mit weißen Laken abgedeckt, Josh hatte also kaum Mühe, das Haus wieder bewohnbar zu machen, weswegen er genug Zeit hatte, seine neu entdeckte Leidenschaft für Motorräder auszuleben.

»Wie geht es dir?«, frage ich ihn besorgt und lege eine Hand auf seinen Gips, den er mit jeder Menge Zeichnungen ansehnlicher gemacht hat.

»Es geht mir gut, ich habe mir ein Bein gebrochen, das kommt schon mal vor«, sagt er, weil es ihm unangenehm ist, dass ich hier bin, um mich um ihn zu kümmern.

Wahrscheinlich braucht er meine Hilfe nicht einmal und ich benutze seinen Unfall nur, damit ich überhaupt irgendwo sein kann und mir nicht eingestehen muss, wie hilflos ich im Moment bin. Denn wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, hätte ich ohne ihn nicht gewusst, wohin ich gehen soll. Aber ausgerechnet Riverside war wohl nicht die beste Wahl.

»Ich bringe meine Kartons in mein Zimmer und dann koche ich uns was zu essen. Worauf hast du Lust?« Lustlos stemme ich mich wieder vom Sofa hoch und werfe den Kartons, die ich noch nicht nach oben getragen habe, einen frustrierten Blick zu.

»Julians Mom hat für uns gekocht, steht in der Küche«, sagt er grinsend. Er weiß genau, was seine Worte in mir auslösen und als er sieht, wie ich mich versteife, fängt er lauthals an zu lachen. »Tut mir leid, aber du müsstest deinen Gesichtsausdruck sehen.«

Ich kneife die Augen zusammen. »Sehe ich in etwa so aus wie auf dem Bild, dass du Julian ins Gefängnis geschickt hast?«, keife ich ihn an, noch bevor ich mich davon abhalten kann.

Josh starrt mich an und verstummt. »Woher weißt du davon?«

Okay, ganz gefährliches Terrain. Ich drehe mich einfach um und verlasse das Wohnzimmer. Ich werde kein Wort darüber sagen, denn Josh darf nichts davon wissen, weil er stinksauer sein wird, wenn er davon erfährt. Seit damals ist er nicht gut zu sprechen auf Julian.

Rush

Jason schüttelt auf der anderen Seite der Glasscheibe den Kopf, dann erklingt seine Stimme zum gefühlt einhundertsten Mal aus den Lautsprechern im Studio. »Noch einmal und mit mehr Schlafzimmer in deiner Stimme. Wie willst du dein Mädchen von dir überzeugen, wenn ihr Höschen nicht feucht wird von deinem Gesinge.«

Ich stöhne genervt auf, aber Jason hat recht, der alte Rush ist irgendwo verschwunden und ich muss ihn wieder hervorlocken. Am besten, indem ich mich voll auf Mila konzentriere. Das hier ist für sie, nicht für die Mädchen, die abends in die Clubs kommen, um eine Band zu hören, die eher durchschnittlich erfolgreich ist.

»Ich weiß, das hier ist anders als eure Aufnahmen während eurer Gigs in Clubs, aber ihr bekommt das hin«, sagt Jason wieder. »Das müsst ihr, ich brauch eine Vorband und ihr seid die Einzigen, die ich gerade auftreiben kann.«

Bei der Erinnerung an den Deal, den wir mit Jason für diese eine Aufnahme und seine Hilfe beim Knüpfen von Kontakten eingegangen sind, wird mir übel. Jasons Vorband für eine Tournee musste kurzfristig absagen, weil der Sänger krank geworden ist. Dass wir einspringen, war seine Bedingung gewesen, uns zu helfen.

»Wir spielen als Vorband von ein paar Kiltträgern, wir sind allemal besser als die«, wirft John ein, wischt sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn und nickt, um zu zeigen, dass er bereit für den nächsten Durchlauf ist.

»Diese Kiltträger sind Stars in Europa«, setzt Jason uns in Kenntnis, dann drückt er vor sich auf dem Pult herum und plötzlich dröhnt harter Rock aus den Lautsprechern, der wie Elektrizität durch meinen Körper zuckt. Eine dunkle harte Stimme singt erst eine leise Strophe und hämmert dann einen schnellen Refrain ins Mikro, begleitet von schrillen E-Gitarrenklängen.

»Okay, verstanden. Sie sind gut«, brüllt John und wedelt mit den Händen, bis Jason die Musik ausstellt.

»Das will ich von euch auch. Arbeitet mit euren Emotionen, ich will diesen Song fühlen. Mir und deiner Kleinen sollen die Herzen bluten.«

Ich stelle mich vor das Mikro, greife meine Fender und nicke. »Also los«, sage ich und senke den Blick auf den offenstehenden Deckel meines Gitarrenkoffers, aus dem mich Mila anschaut. »Zeigen wir Wild Novel, wie man in den USA Musik macht«, sage ich.

»Yeah, Tournee«, brüllt Tristan und grinst mich glücklich an. In seinem Gesicht sehe ich die Erleichterung, als er mich ansieht. Er spürt meine Entschlossenheit und weiß, der alte Rush ist zurück.


Ein Rockstar zum VerliebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt