Prolog

19 3 1
                                        

Sie hörte nichts.

Sie sah nichts.

Da war nur ein Gefühl, welches es war, kann sie heute nicht mehr sagen. Was sie weiß, ist das es stark war, als hätte sie ein Hauch Leid, Schmerz, Verzweiflung, aber auch unbändiges Glück gestreift. Sie vermisst es, ja das tut sie. Manchmal spürt sie dieses erdrückende Bedauern tief in ihrem Herzen, diese Last, die sie ganz allein trägt.

Oft schaut sie noch heute aus dem Fenster ihrer kleinen Wohnung und denkt daran, wie unbedeutend sie ist. Spielt es eine Rolle, dass sie lebt? Hat es einen Sinn, betrachtet auf das große Ganze zu existieren. Sie starrt weiter hinaus, betrachtet wie die Regentropfen dem Fensterglas hinunterrinnen und bedauert ihre eigene Existenz in dieser grausamen, kranken Welt.

Sie fühlt sich missverstanden und ausgebeutet, benutzt und liegen gelassen.

„Du bist alles, was von meiner Liebe bleibt", flüstert sie sich immer wieder selbst zu. „Du bist alles, was von meiner Liebe bleibt." Diese Worte spenden ihr Trost, sie weiß nicht einmal wieso, nur das sie wichtig sind ist ihr klar. Plötzlich ist ihr unsäglich kalt, doch sie weigert sich strikt dagegen nach einer Decke zu greifen, sie will noch nicht aufgeben, noch nicht.

Sie bewundert die Dächer ihrer Heimat, sieht wie eine Gruppe von Kindern, in gelben Regenmänteln, freudig in die Pfützen springt, wie sie lachen und sich freuen. Die Mütter der Kinder stehen am Straßenrand und unterhalten sich. Sie gestikulieren wild mit ihren Händen, flüstern sich ins Ohr und brechen gackernd in Gelächter aus. Bei diesem Anblick muss sie schmunzeln.

Noch eine Weile beobachtet sie dieses Schauspiel, bis die Frauen ihre Kinder wieder zu sich rufen und ihnen liebevoll über den Kopf streicheln. Einer der Jungen tritt vor und gibt dem Mädchen mit den braunen Locken einen Kuss, das Mädchen dreht sich darauf hysterisch im Kreis und wischt den Kuss am Jackenärmel ihrer Mutter ab. Sie spürt, wie ihr Herz auf einmal leichter wird, sodass sich ein lautes Lachen von ihren Lippen lösen kann.

Heiter steht sie auf, die trüben Gedanken sind verflossen.

1 Jahr später:

Die Schweißperlen glänzen auf ihrer Stirn, wie einst die Regentropfen am Fensterglas. Die fettigen Haare kleben ihr im Nacken, doch dies spürt sie kaum, da sind nur diese Wellen des Schmerzes. Keuchend fühlt sie, wie sich die Nächste anbahnt, auf ihren gedämpften Schrei folgt der erste Schrei eines neuen Lebens. Erschöpft lehnt sie sich zurück, erst jetzt bemerkt sie den Schweiß, der an ihrem ganzen Körper haftet. Gleichgültig streicht sie sich ein paar schwarze Strähnen aus dem Gesicht.

„Ich will mein Kind haben." Die Worte aus ihrem Mund klingen schwach, aber verlangend, jede Faser ihres Körpers sehnt sich nun nach diesem kleinen Wesen und seinem Duft. „Herzlichen Glückwunsch, es ist ein kleines Mädchen", sagt die Hebamme und legt ihr, ihre größte Sehnsucht, ihre unverwüstlich Liebe in die Arme. Tränen der Freude strömen aus ihren Augen und tropfen von ihrem Gesicht auf den schwarzen Haarschopf des Kindes. „Oh Lady, Ihr Kind hat wunderschöne Augen, blau wie der Ozean", bemerkt ihre Zimmerzofe, die eben den Raum betreten hatte, um alles zusammen mit der Hebamme für die Nachgeburt vorzubereiten. „Haben sie den Ozean schon einmal gesehen?" „Nein Lady, aber ich glaube fest daran, dass so ein Ozean auszusehen hat." Die Lady muss nun einfach grinsen.

„Ach Florentina, der Ozean, den ich kenne, ist keines Wegs blau, er ist grau und manchmal sogar tief schwarz." Nun schaltet sich die Hebamme ein: „Dummes Mädchen hör mir zu, viele Säuglinge haben bei ihrer Geburt blaue Augen, als Grundfarbe, in ein paar Monaten könnte dieses kleine Wesen eine ganz andere Augenfarbe besitzen." Verträumt schaut die junge Mutter in die Augen ihres Mädchens, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und wendet ihren Blick aus dem Fenster. Draußen dämmert es bereits, dicke Wolken hängen über der Stadt, sie türmen sich auf, wie riesige Berge, die sich von einem eisigen Sturm tragen lassen. „Colette, die Lady, die den Sturm in den Augen trägt", flüstert sie und haucht ihrem Kind einen Kuss auf die Stirn.

Der VertragWhere stories live. Discover now