Rote Gummistiefel

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Langsam stieg sie die Stufen der alten Holzleiter hinauf. Das Kieferholz knirschte unter ihrem Gewicht. Stufe für Stufe näherte sie sich der Luke. Noch sechs Stufen. Fünf. Sie hielt inne und atmete tief durch. Wie leicht ihr all das früher gefallen war. Unbeschwert und leichtfüßig hatte sie damals die Sprossen erklommen. Damals... Sie sammelte sich wieder und nahm die restlichen Stufen in Angriff. Vier... Drei... Sie streckte ihre Hand nach dem kühlen Eisengriff aus und drückte die Tür nach oben. Unter Ächzen zog sie sich in den Raum hinauf. Sie fand sich am Boden des staubigen Dachbodens wieder. Was wollte sie doch gleich? Richtig, die Münzsammlung ihres Mannes. Ihr Sohn hatte sie kürzlich darum gebeten. Sie richtete sich so gut es ging auf und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Durch ein mit Spinnenweben umwobenes Fenster drangen die letzten Sonnenstrahlen des Tages ein und verliehen der Kammer eine beinahe mystische und dennoch wohlige Atmosphäre. Den grauen Karton mit der Aufschrift „Münzen" hatte sie gleich entdeckt. Als sie ihn öffnete, krabbelte eine kleine Spinne aus dem Deckel heraus und seilte sich panisch ab. Gedankenverloren sah sie dem Tier nach, das sich hinter einer anderen Schachtel versteckte. Dann wagte sie einen Blick auf die Münzsammlung. Trotz des Alters waren die meisten Exemplare noch recht gut erhalten. Sie lächelte und schloss die Box wieder. Mit der Sammlung in den Armen wollte sie sich gerade wieder zur Luke begeben, als sie etwas Vertrautes im Augenwinkel wahrnahm. Sie wandte sich um und erkannte ihre alten, roten Gummistiefel. Bedächtig stellte sie die Schachtel mit den Münzen auf den Boden und ging die wenigen Schritte bis zu den Stiefeln. Sie bückte sich und zog sie aus der Ecke. Ihre Augen ruhten lange auf den Schuhen. Die rote Farbe war mittlerweile etwas verblasst – klar, nach all den Jahren, und wenn sie die Stiefel im Licht drehte, konnte sie die kleinen Kratzer auf dem Gummi erkennen. Der Matsch und die Erde, die einst daran hafteten, waren längst abgefallen oder vermodert. Sie erinnerte sich noch glasklar, wie ihr Vater ihr die Schuhe zu ihrem siebten Geburtstag überreicht hatte. Sie hatten damals nicht viel Geld und umso strahlender war das Lächeln ihres Vaters, das sich in ihrem eigenen Gesicht widerspiegelte. Sie umarmte ihn und zog die neuen Stiefel gleich an. Voller Tatendrang stürmte sie auf die Haustür zu und rannte mit ihren neuen Gummistiefeln durch die umliegenden Felder. Es hatte nicht einmal geregnet, aber sie war so stolz auf ihre Errungenschaft gewesen. Am Fenster konnte sie ihre Eltern erkennen, – der Vater hatte den Arm um die Mutter gelegt – die ihr glückselig nachsahen. Glucksend vor Freude winkte sie ihnen zu. Ein anderes Mal – es regnete an diesem Tag tatsächlich – ging sie mit ihrem besten Freund wie so oft den Wald erkunden. Prinzessin und Ritter hatten sie hier schon viele Male gespielt und zahlreiche Abenteuer erlebt. Sie sprang mit den roten Stiefeln in die Pfützen, und das, obwohl sie wusste, dass ihre Eltern später schimpfen würden, wenn sie den feuchten Matsch daran haften sahen. Sie konnte noch den Geruch des Regens im Wald riechen, die Tannen und die frisch aufgeblühten Sonnenblumen vom nahegelegenen Feld. Eine weitere Erinnerung blitze in ihr auf. Wenige Tage später trug sie die roten Stiefel erneut bei Regen. Auf dem grünen Gras sammelten sich die Tropfen, verwandelten die Wiese in ein kleines Moor. Sie betrachtete die in schwarz gekleideten Menschen um sich herum, die mit ihr am Grab der gerade erst verstorbenen Mutter standen. Sogar der Himmel weint für Mama, dachte sie, als sie nach oben blickte. Kleine, unscheinbare Tränen liefen ihre Wangen hinunter und tropften auf die roten Gummistiefel, den scheinbar einzigen Farbtupfer in der tristen Umgebung, wo sie sich untrennbar mit dem Regenwasser vereinten. Ihr Vater legte einen Arm um ihre Schulter und setzte ihr die Kapuze auf. Das Geräusch des Regens, der auf den Friedhof prasselte, auf das Grab der Mutter und auf ihre Regenjacke, war ihr im Gedächtnis geblieben. Mit einer sanften Bewegung lenkte sie der Vater zum Friedhofstor. Bevor sie um die moosbewachsene Steinmauer bog, warf sie einen letzten Blick zurück auf das Grab der Mutter und anschließend auf ihre in den Stiefeln steckenden Füße. Wehmütig lächelnd stellte sie die Gummistiefel zurück in die Ecke und strich sich eine Strähne grauen Haares aus dem faltigen Gesicht. Sie nahm den Karton mit den Münzen wieder an sich, ließ sich vor der Öffnung des Dachbodens nieder und setzte vorsichtig einen Fuß auf die Leiter. Sie sah noch einmal zu den roten Gummistiefeln und stieg dann, gemächlich, die Leiter hinab.

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