Kapitel 1 - Das Ende

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Eigentlich ging alles sehr schnell.

Ich hörte, wie eine Stimme mir etwas zurief – das entfernt wie eine Warnung klang – als nur einen Wimpernschlag später, zwei helle Lichter den Schleier der Dunkelheit zerschnitten und geradewegs mit hohem Tempo, auf mich zukamen. Bevor ich überhaupt begriff, was gerade geschah, folgte ein starker und heftiger Aufprall, der mich mit solcher Wucht traf, dass es mir die Luft aus den Lungen presste. Lautes Quietschen ertönte. Glas splitterte.

Ruckartig wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen, und wie bei einem wilden Ritt in einem Kettenkarussell – die man in allen Größen auf zahlreichen Jahrmärkten finden konnte und denen ich immer fern blieb, weil mir davon schlecht wurde – begann sich die Welt rasant um mich herum zu drehen. Ohne Vorwarnung folgte ein weiterer Aufprall auf dem groben Asphalt, der sich noch heftiger anfühlte, als der erste. Ein lautes Knacken ertönte, das in einem explosionsartigen Schmerz mündete. Ich versuchte zu schreien, um die betäubenden Qualen hinaus zu lassen, doch meine Stimme versagte kläglich, und es verließ nur ein hilfloses Röcheln meine Kehle.

Tränen sammelten sich in meinen Augen, während mir der beißende Geruch von verbranntem Gummi in die Nase stieg und mich ein Anfall von Übelkeit überkam. Mein Gesicht brannte wie Feuer, als wäre es mit lauter spitzen, kleinen Nadeln überzogen, die sich tief in meine Haut bohrten. Der metallene Geschmack von Blut vermischte sich in meinem Mund mit Speichel. Ich konnte spüren, wie mir das warme Gemisch langsam aus dem Mundwinkel das Kinn hinunter lief und auf den Asphalt der Straße tropfte.

Unaufhaltsam wurde ich von Wogen der Panik erfasst, die meine mir noch verbliebenen Sinne hin und her schleuderten, was es mir unmöglich machte, auch nur einen klaren Gedanken über das zuvor Geschehene zu fassen. Es war, als wäre ich zwischen eine aufgebrachte Herde von Elefanten geraten, die mich als Spielball benutzt hatten. Elefanten? Ein absurder Gedanke. Trotzdem erwischte ich mich dabei, wie ich mich versuchte zu erinnern, ob sich nicht ein Zirkus in der Stadt befand, denn dann wäre ein Zusammenstoß mit den grauen Riesen nicht ganz so abwegig gewesen.

Und wie es der Zufall wollte erklang in der Ferne erneut ein Geräusch, welches an ein aufgebrachtes Trompeten erinnerte und sogleich weitere bizarre Bilder in meinem Unterbewusstsein auslöste. Es müssen Elefanten gewesen sein ...

Es waren diese verworrenen Erklärungsversuche und Gedankenspiele, die mir halfen, meine Angst zu unterdrücken, die anhaltenden Schmerzen zu ignorieren und dafür zu beten, dass sie wieder nachließen. Was auch immer mir tatsächlich zugestoßen war, ich musste etwas tun, wollte mich bewegen, mich aufsetzen – doch mein Körper reagierte auf keine meiner Anstrengungen. Unsichtbare Mächte pressten mich mit aller Kraft zu Boden und hinderten mich am Wegkommen. Erst da wurde mir bewusst, dass ich weder meine Beine, noch meine Arme spüren konnte. Meine fleischliche Hülle bildete einen unbeweglichen Käfig, aus dem es für mich kein Entrinnen gab. Und jeder erneute vergebliche Versuch, die Kontrolle zurückzuerlangen, ließ meine Hoffnung immer weiter schrumpfen.

Plötzlich wurde mir kalt. Eiskalt. Es schien, als wäre mit einem Mal all die Wärme aus mir verschwunden. Als wäre der Winter, ohne Umschweife direkt auf den Sommer gefolgt. In jedem Winkel meines Körpers hatte sich eine beißende Kälte breit gemacht, die mich wie Espenlaub zittern ließ, während der Druck auf meiner Brust immer unerträglicher wurde. Auch die Furcht war zurückgekehrt. Sie hatte die ganze Zeit in einer dunklen Ecke gelauert, aus der sie bei der erstbesten Gelegenheit hervorsprang, um erneut ihre gierigen Klauen nach mir auszustrecken. Nur dieses Mal ließ sich nicht mehr zurückdrängen. Hartnäckig behielt sie die Oberhand und zerstörte jeden noch so kleinen meiner zuversichtlichen Gedanken, bis ich mit ihr allein war.

Selbst die Welt um mich herum, war aus den Fugen geraten. Wo wenige Minuten zuvor noch das unbekümmerte Leben pulsierte, herrschte nun Chaos. Unverständliches Stimmenwirrwarr und genervtes Autohupen drang an meine Ohren. Fahrzeugtüren wurden hektisch zugeworfen. Menschen liefen aufgeregt auf mich zu. Einige von ihnen hatten bereits ihre Handys herausgeholt und telefonierten, andere wirbelten nur wild gestikulierend mit den Armen umher – Hilfe war nah und schien doch so fern.

Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt