Kapitel 1

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Der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee und getoastetem Brot vertreibt die Erinnerung an meinen Alptraum, als ich mich auf den Weg zur Küche mache. Schon vom zweiten Stockwerk aus höre ich geschäftiges Treiben hinter der weißen Tür mit der aufgemalten Teekanne. Geschirr klirrt, jemand donnert Besteck in die Schublade und meine Mutter summt leise vor sich hin, während sie das Frühstück zubereitet. Als ich die Tür aufstoße, ertönt ein schriller Schrei, der mich mitten in der Bewegung innehalten lässt. Sofort sind die Erinnerungen an meinen Alptraum, den einzigen, den ich jemals hatte, zurück.

»Mike, du kleiner Rotzlöffel!«, ruft meine Mutter und sofort entspanne ich mich wieder. Ein bisschen Familiendrama am Morgen wirkt bei mir wahre Wunder. Das hier, die Standpauke, die Mum Mike hält, ist für mich wie Balsam auf der Seele. Genau das, was ich nach einer solchen Nacht gebrauchen kann. Es ist einfach so normal, so nebensächlich, dass dieses endlose Schweigen in mir langsam verblasst und sich wieder mit Leben füllt.

»Was hast du denn nun schon wieder angestellt?«, frage ich meinen kleinen Bruder und wuschele ihm durch die rotblonden Haare, die ihm ständig ins Gesicht hängen. Mum sagt, dass Mike wohl damit verbergen will, wenn er wieder einen seiner Streiche ausheckt.

»Ach, die Pancakes werden heute einfach sehr salzig schmecken«, meint er mit einer Unschuldsmiene, die jeden anderen hätte glauben lassen, er wäre das bravste Kind, das je geboren worden ist. Aber Mike hat es faustdick hinter den Ohren.

»Nimm dir lieber gleich zwei Tassen, Isa«, fügt er hinzu und hält mir einige sehr angeschlagene Exemplare hin, die er gerade aus dem Geschirrspüler geholt hat.

»Na, toll, vielen Dank auch, Kleiner«, entgegne ich und fahre ihm wieder durchs Haar, nur um ihn zu ärgern. Während Mike dazu geboren ist, anderen Streiche zu spielen, die mitunter ziemlich fies enden, ist es meine Aufgabe als seine große und einzige Schwester, ihn ein bisschen leiden zu lassen. Sozusagen als Entschädigung für all diejenigen, die ihm zum Opfer gefallen sind. Besonders Mum, die aber auch wirklich leicht zu ärgern ist, vor allem wenn sie nach einem Kundenbesuch wieder völlig zerstreut ist.

»Langsam solltest du doch daran gewöhnt sein, dass er das macht, Gloria-Schatz«, meldet sich mein Vater vom Küchentisch zu Wort, ohne den Blick von seinem Buch zu heben. Lucas, mein älterer Bruder, sitzt neben ihm und wirkt dabei wie eine jüngere Version von Dad. Beide beugen sich, die Brillen bis auf die Nasenspitze vorgezogen, über dicke Wälzer und halten ihre Kaffeetassen in der einen Hand. Mit der anderen machen sie sich geschäftig Notizen, ohne je den Blick von den ach so spannenden Zeilen zu heben. Eigentlich habe ich gehofft, etwas mehr Zeit mit Lucas zu verbringen. Seit er zusammen mit Dad für das Institut arbeitet, bekomme ich meinen großen Bruder kaum mehr zu Gesicht. Ich vermisse die alten Zeiten, aber selbst einen Tag vor meinem Geburtstag können die beiden nicht ihre Finger von den Büchern lassen.

Ich reiße Mike eine der Tassen aus der Hand und schenke mir Kaffee ein, ehe ich mich zu Dad und Lucas an unseren Küchentisch setze und versuche, mitzulesen. Aber sowohl Lucas als auch Dad ziehen ihre Bücher weiter von mir weg und schütteln den Kopf. Immer noch fest auf ihren Lesestoff konzentriert.

»Nichts für dich, Isa. Eine Grundsatzdebatte über Geistererscheinungen und paranormale Phänomene ist nicht für die morgendliche Konversation geeignet«, sagt Dad und rückt sich mit dem Stift in der Hand die Brille zurecht. Ich an seiner Stelle hätte mir vermutlich ins Gesicht gemalt, aber er hat in dieser Bewegung auch einiges mehr an Übung. Seit ich mich erinnern kann, finde ich ihn jeden Morgen so vor. Und seit Lucas die Schule beendet hat, hat auch ihn der Leseeifer gepackt. Frustriert zupfe ich am weißen Lack des Tischbeins herum, der an vielen Stellen schon abgeblättert ist.

»Wenn du das noch einmal machst, kannst du in Zukunft dein Frühstück selber herrichten«, ertönt die Stimme meiner Mutter, als ich gerade etwas erwidern will.

Wayward Witches | Witch's World 1 [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt