60. Kapitel

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Sie ist mir nahe. Heiß prickelt ihr Atem auf meinen Lippen, beschert mir eine Gänsehaut, wie ich sie noch nie erlebt habe. Alles in meinem Körper kribbelt, alles sehnt sich nach ihr. Meine Blicke suchen ihre, verlieren sich in diesem satten Blau. Es ist, als würde ich mich in dem Geflecht aus Emotionen, aus Begierde und Leidenschaft, die sich in ihren Augen widerspiegeln, verfangen. Aber es fühlt sich gut an. So gut, dass ich mich nicht von ihren tiefen Blicken lösen kann. Wie in Zeitlupe nehme ich war, wie sie sich mir nähert. Nur ein Schritt, erotisch schwingt sie ihre Hüften und mein Atem setzt für einen kurzen Moment aus. Dann ist sie mir noch viel näher, ihre Blicke noch intensiver und ihre Lippen jetzt so dicht an meinen, dass deren kräftiges Rot mir nur so ins Auge sticht. Mein Hals wird trocken und ich spüre, wie es mir heiß den Rücken hinunterläuft. Bevor ich diesen Schachzug überhaupt verkraften kann, spielt sie auch schon weiter. Langsam streckt sie ihre grazilen Finger nach mir aus, streift über meinen Arm und zieht zarte Linien auf meine nackte Haut. Sanft und kaum spürbar und doch scheint jede Stelle zu brennen, an der sie mich berührt. Mein Atem geht stoßweise, kein Muskel in mir rührt sich. Ich bin wie gelähmt, betäubt von ihrer Schönheit und Anmut. Alles in meinem Körper steht unter Flammen. Sie lächelt nur, ist sich dessen bewusste, dass sie mich vollkommen verrückt macht. Sie genießt dieses Spiel, liebt es, wenn ich mich ihr so hingebe. Und ich habe rein gar nichts dagegen. Zu lange habe ich darauf gewartet. Zu lange durfte ich sie nicht berühren, nicht spüren und nicht bei ihr sein. Zu lange waren wir getrennt. Das soll jetzt vorbei sein.
Sie schaut mir in die Augen, liebevoll und zärtlich. Dann streift sie mir meine Haare über die rechte Schulter, legt so die linke Seite meines Halses frei und führt ihre sinnlich geschwungenen Lippen ganz dicht an mein Ohr. Sie sagt kein Wort, nur ihren schweren Atem spüre ich auf meiner Haut. Ihr Duft steigt mir in die Nase, so intensiv, dass alles in mir zu kribbeln beginnt. Sie riecht immer noch wie damals, unwiderstehlich gut, süß und feminin. Ich kann ihr nicht widerstehen, dass konnte ich noch nie. Sie war immer schon eine verbotene Frucht für mich, von der ich probieren wollten, entgegen aller Widerstände. Und jetzt ist sie hier. Endlich. Sie ist mir nahe, ich spüre ihre Lippen, ihren Atem und ihren Duft, ganz nah bei mir. Für diesen Moment gebe ich ihr alles. Alles von mir und alles von uns. Für diesen Moment sind wir eins. Nur sie und ich.

                               ***

Mit klopfendem Herzen betrachte ich das Spiegelbild, das mir mit monotonem Gesichtsausdruck entgegen starrt. Ich sehe aus wie eine Schaufensterpuppe und weiß nicht, ob mir gefällt was ich sehe.

Die letzten Wochen und Monate vergingen wie im Flug. Ich hab Tag für Tag damit verbracht, für die Prüfungen zu büffeln und meine restliche freie Zeit allein dem Sport zugeschrieben. So versuchte ich auszublenden, wie stark der Schmerz in mir noch immer präsent ist. Denn ich weiß, dass ich Isabell noch immer vermisse. Es ist, als würde sich jeder Teil meines Körpers an ihr klammern und sie halten, und mit jedem Tag, der verstreicht, ohne dass sie bei mir ist, habe ich das Gefühl, dass die Liebe zu ihr nur noch stärker wird. Ich kann es mir nicht erklären. Die Versuche, das große schwarze Loch in meinem Herzen zu flicken, scheitern kläglich. Mittlerweile habe ich die Hoffnung fast schon aufgegeben, dass es irgendwann besser werden könnte. Selbst die Tatsache, dass ich mein Abschluss erfolgreich bestanden habe und mit meinem Ergebnis wirklich zufrieden sein kann, vermag meine Stimmung nicht zu heben. Ganz im Gegenteil. Denn auch wenn ich froh bin, dass alles jetzt irgendwie hinter mir lassen zu können, den Kummer und den Schmerz, den ich mit diesem Ort verbinde, so muss ich mich nun auch von Freunden verabschieden, die mir wirklich ans Herz gewachsen sind. Für manche mag das der Schritt in ein neues Leben sein, ich habe bisher nur das Gefühl, ein Teil von mir gehen lassen zu müssen.

Und doch hat mich die Tatsache, dass ich bald einen anderen Weg eingehen muss, nicht kalt gelassen. Ich bin über meinen Schatten gesprungen und habe meinen Vater angerufen. Bis dato habe ich jeden Versuch von ihm mit mir zu reden abgeblockt. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, auch wenn das vielleicht egoistisch klingen mag, aber ich hatte einfach nicht die Kraft dafür, mich auch noch den Problemen mit ihm zu stellen. Und doch habe ich es schließlich tatsächlich getan. Er hat die lange Autofahrt auf sich genommen und ist hergekommen. Wir haben uns in einem Restaurant hier in der Nähe getroffen und geredet. Er hat mir den Kummer der letzten Monate sofort angesehen. Ich glaube, er hat sich schuldig gefühlt. Ich konnte ihm nicht sagen, wer wirklich der Grund für all die Schmerzen ist. Ich hatte Angst, er würde mich nicht verstehen und nach all den Jahren, in denen wir uns so weit voneinander distanziert haben, wäre das vermutlich auch kein Wunder gewesen. Ich will das ganze vorsichtig angehen, und das habe ich ihm auch gesagt. Die Angst, erneut verletzt und im Stich gelassen zu werden, ist zu groß, als dass ich sie komplett ignorieren könnte.

Captured- Im Netz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt