Vergessen und Verändert

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Ich rannte durch meine Gedanken. Ohne Stopp, ohne Ziel. Mal wieder.

All diese Zeit, in der ich mich in dieser Welt aufhielt, zerdrückte mich.

Nahm mir die Luft, die ich nicht hatte.

Nahm mir die Lebensfreude, die ich nicht mehr hatte.

Nahm mir alles, was mir mal was bedeutet hatte.

Die bleierne Stille dröhnte in schrägen Tönen in meinem Kopf wider.

Meine nackten Füße waren geschwollen und von den Kristallen zerfetzt und violett geblutet.

Mein erschöpfter Atem raste, doch ich konnte nicht stehen bleiben. Die Angst, zu zerbrechen, wenn ich stehen bliebe, war zu groß.

Und so rannte ich weiter.

Weiter in das Labyrinth aus Leid, Schmerz und Wut.

Mein Kopf schmerzte, meine Sicht ist verschwommen, mein Körper ausgelaugt.

Ich wurde langsamer und hielt schließlich an.

Nur ganz kurz durchatmen.

Und sofort rannte ich weiter.

Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn.

Die Erschöpfung zeigte sich in meinen schweren Gelenken, die immer steifer wurden.

Mein Herz raste und knallte mir unangenehm gegen den Brustkorb.

Immer weiter.

Nicht stehen bleiben.

"Ihr Puls rast schon wieder. Selbst die Beruhigungstabletten helfen nicht. Dr. Roots, was sollen wir tun? Die Therapie nützt nichts."

Eine junge Ärztin, die mich seit einer Woche betreute.

"Macht ein intensiveres Training. Scarlett darf nicht mehr nach Hause, bis sie wieder aufgebaut ist. Ab jetzt wird sie vor und nach jeder Mahlzeit trainiert.", murmelte ein männlicher Arzt, der Oberarzt.

Mein Herz blieb stehen.

Hier bleiben?

Bis ich nicht mehr in diese Welt gehe?

Wie lange würde das sein?

Und ein tägliches Training?

Zweimal pro Tag?

Ich werde das nicht aushalten, das fühlte ich.

Das Training war sehr hart. Und es half kaum. Ich durfte die Kristallwelt nicht mehr betreten.

Ich wurde immer betreut.

Immer und überall.

Nie sah ich Mom.

Oder Mike.

Schmerz in meinem Herz.

Ich wurde viermal am Tag von dem Doktor untersucht und getestet.

Der Alltag war schlimm und tonlos.

Die weiße Klinik machte mich fast depressiv.

Aber nur fast.

Die ersten drei Monate floh ich oft in die Kristallwelt.

Doch dann hörte ich auf damit. Immer öfter konzentrierte ich mich auf die reale Welt.

Die Kristallwelt geriet immer mehr in Vergessenheit.

Nach vier Jahren hatte ich sie ganz verloren.

Die Zeit mit Mike war wie aus meinem Kopf gelöscht.

Die Therapie hatte mich von Scar zu Miss Scarlett gemacht.

Eine Woche vor meinem zweiundzwanzigstem Geburtstag wurde ich aus der Klinik entlassen.

Ich konnte frische Luft riechen. Konnte Vögel hören. Konnte Leben sehen.

Aber all das hatte für mich keine Bedeutung.

Ich sah es nicht als eine Einzigartigkeit, so wie einmal.

Ich hatte angefangen, das Schöne als eine Selbstverständlichkeit zu sehen.

Wie ausgewischt.

Ein schwarzer Fleck in meiner Erinnerung.

Ich sah mich um.

Mom stand bei ihrem Auto. Ich schlenderte auf sie zu. Ich gab ihr meine Tasche und umarmte sie. Ihre warmen Arme umschlossen meinen schmächtigen Körper. Froh über diesen Schutz seufzte ich. Mom streichelte meinen Kopf und flüsterte mir beruhigend zu.

Ich genoss die Geste. Seit vier Jahren hatte ich das nicht mehr gefühlt.

Ich warf die über packte Tasche in den Kofferraum und stieg in das Auto.

Endlich nach Hause.

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