Kapitel 61 - Ariadnes Plan

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"Will, ich kann meine Probleme allein in den Griff bekommen.", sagte ich. Während ich das sagte bemerkte ich, wie Desdemona skeptisch eine Augenbraue hoch zog. Ich ignorierte sie fürs Erste. Will seufzte. "Das ist es nicht. Ich bin einfach besorgt, okay?" Er rieb sich den Nacken. "Weißt du, es ist noch ziemlich neu für mich eine kleine Schwester zu haben. Ich weiß noch nicht genau wie ich damit umgehen soll. Ich weiß nicht wirklich wie ich mir dir gegenüber verhalten soll." Er sah mich hilflos an. "Und du bist nun auch nicht wirklich gerade diese Standart-Schwester. Das macht es noch einmal komplizierter. Ich möchte dir doch nur helfen. Aber irgendwie scheint das auch nicht das Richtige zu sein." Will ließ seinen Kopf ein wenig hängen. Zerknirscht setzte ich mich wieder auf. Mir war überhaupt nicht bewusst gewesen wie es Will mit dieser Situation ging. Ich hatte nur an mich gedacht. Und nicht an Wills Gefühle. Für ihn war das alles genauso neu wie für mich. Es freute mich, dass ich jemanden hatte, der auf mich Acht gab und sich um mich sorgte. Doch ich war auch keine zehn Jahre alt. Will musste mir ein wenig Freiraum lassen. Ich konnte vollkommen nachvollziehen weshalb Will tat, was er nun einmal tat. Immerhin wollte ich auch Teil von Wills Leben werden. Allerdings war ich darin nicht so gut wie Will. Da mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können, schlag ich einfach meine Arme um ihn und umarmte ihn. Ich spürte Wills warmen Atem in meinem Nacken und wie er meine Umarmung erwiderte. Still saßen wir so dar und redeten nicht. Will schienen auch keine Worte mehr einzufallen, also ließ er es genauso wie ich sein.

"Leute ...", murmelte Desdemona kopfschüttelnd. Ein leichtes Grinsen lag auf ihren Lippen. Will ließ mich los. "Kommst du mit Essen oder möchtest du alleine mit Desdemona gehen?", fragte er mich. Ich lächelte. "Ich komme mit.", sagte ich.  Dann sah ich an mir herunter. "Warte nur ein paar Minuten draußen." Will nickte, stand auf und verließ das Zimmer. Nun waren Desdemona und ich alleine. Sie kam auf mich zu. Ihre Miene war wieder ernst. "Egal was du denken magst, du musst das alles nicht alleine durchstehen.", sagte sie. "Du hast deinen Bruder, du hast mich und du hast Liam." Sie lächelte, als sie meinen fragenden Blick sah. "Liam und ich haben miteinander gesprochen. Ich denke, es hat sich alles geklärt.", informierte sie mich. "Und obwohl Liam nicht weiß wie er mit dir umgehen soll, wird auch er hinter dir stehen." Erleichterung. So war das Gefühl am besten zu beschreiben, das aufkam, als Desdemona das sagte. Denn das zeigte mir, dass Liam es auf irgendeine Art und Weise akzeptiert hatte. Das wiederum bedeutete, es würde vielleicht gar nicht mehr so lange dauern und er würde wieder normal mit mir reden können. Hoffentlich ohne sich vor mir zu fürchten.

Einige Minuten später gingen Desdemona, Will und ich gemeinsam zum Frühstück. Wie gewöhnlich erntete Desdemona auf dem Weg dorthin einige unfreundliche Rufe. Will betrachtete das alles nur mit hochgezogener Augenbraue.
Der Speisesaal hatte sich bereits gut gefüllt und wir waren beinahe die Letzten. Nawin hatte uns allen einen Platz an seinem Tisch freigehalten. Desdemona würdigte ihn kam eines Blickes, was Nawins Mundwinkel schlagartig sinken ließ. Und als sei das nicht schon genug für seine schlechte Laune, setzte sich auch noch Liam zu uns. Nawin versuchte ihn mit bösen Blicken zu vertreiben, doch blieb erfolglos. Liam ließ sich von ihm nicht im geringsten stören. Er plauderte mit Desdemona und Nawins Laune schien den Abgrund hinunter zu fallen. Will warf mir einen fragenden Blick zu, wobei ich bloß mit einem Schulterzucken antwortete.
Liam schien viel besser gelaunt als die letzten Male. Er strahlte, wenn Desdemona lächelte. Und wenn sie redete hing er gebannt an ihren Lippen. Mit einem leichten Lächeln betrachtete ich die beiden. Sie hatten sich so lange darauf konzentriert sich zu hassen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie gut sie eigentlich zusammen passten.
Nawin, der das alles im Gegensatz zu mir mit einer Todesmiene betrachtete, bekam einen mitleidigen Schulterklopfer von meinem Bruder. Nawin schien immer tiefer in seinem Stuhl zu versinken.
In aller Ruhe aß ich mein lauwarmes Rührei und mein Müsli. Doch die Ruhe sollte schon bald ein Ende zu haben. Es begann damit, dass ich mich beobachtet fühlte. Ein schlechtes Gefühl überkam mich und ich zwang mich, mich nicht umzudrehen. Ich wollte diesen Moment der Normalität und Unbeschwertheit nicht zerstören. Allerdings tat ich es letzten Endes doch und blickte genau in das Gesicht und die kalten Augen von Ariadne. Diese saß ein paar Meter entfernt zusammen mit ihren Geschwistern an einem Tisch, von dem sie einen guten Überblick über die Halle hatte. Grace und Imogen schienen nicht einmal zu bemerken, dass ihre jüngere Schwester ihnen überhaupt nicht zuhörte. Dylan dagegen merkte es sehr wohl. Sein vernichtender Blick war mir gewidmet. Missmutig bemerkte ich wieder einmal, wie ähnlich sich Ariadne und Dylan eigentlich waren.
Plötzlich erhob sich Ariadne von ihrem Platz und lief mit zügigen, grazilen Schritten auf unseren Tisch zu. Die verwunderten Blicke ihrer Schwestern und der forschende Blick ihres Bruders folgten ihr. Als sie hinter mir stand lenkte sie auch die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. "Ich muss mit dir reden.", sagte sie mit gleichgültiger Stimme. Eine Weile lang sah ich sie an ohne irgendetwas gesagt zu haben. Ariadne wurde ungeduldig.
"Lässt du mich vielleicht auch noch aufessen?", fragte ich und konnte nicht verhindern, dass sich ein leicht sarkastischer Unterton in meine Stimme schlich. Ariadne ließ ihre Augen kalt über mich schweifen. "Nein.", sagte sie. "Ich warte draußen." Noch ehe ich etwas erwidern konnte, war sie auch schon verschwunden. Nun sahen alle mich an.
"Was war das denn gerade?", wollte Liam wissen. Desdemona musterte mich mit einem durchdringenden Blick. Es war mir als würde sie in mein Innerstes sehen können. Das war alles andere als angenehm. "Ja, Lune. Was war das?", stimmte sie Liam zu.
Will sah dorthin, wo Ariadne verschwunden war. "Wer war die denn? Die war ja nicht gerade sympathisch."
Leider trug Ariadnes Auftauchen auch dazu bei, dass Nawin mich wieder wie vorher misstrauisch beäugte. Es kam mir so vor, als würde er irgendetwas wissen. Doch was? Ich würde es noch herausfinden. Er verbarg etwas. Etwas, das vielleicht gar nicht mal so unwichtig war. Immerhin war noch immer nicht ganz geklärt, weshalb er Desdemona von jetzt auf gleich hatte fallen lassen. Ja, er hatte ihr eine Erklärung gegeben, aber irgendwie wurde ich den Gedanken nicht los, dass mehr dahinter steckte.

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