26. Kapitel

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Der Himmel über mich hat sich zu einer dichten Wand aus grauen Wolken bezogen. Kleine, nasse Regentropfen treffen auf meine Haut und den Stoff meiner Kleidung. Ein kalter Windzug weht mir eine dunkle Strähne ins Gesicht, die sich widerspenstig aus meinem Zopf gelöst hat.

Während Henry mein Koffer und das restliche Gepäck in den Kofferraum befördert, sehe ich den tanzenden Laubblättern am Wegesrand verträumt dabei zu, wie sie durch die Lüfte jagen und dann im Haufen der anderen auf den Asphalt landen. Ich stecke meine zitternden Hände in meine Jackentaschen​, mein Kinn vergrabe ich tief in meinen wolligen Schal, als Mary mit einem kleinen Korb aus dem Haus geeilt kommt.

>>Ihr müsst los, wenn ihr noch vor der Dämmerung im Internat ankommen wollt!<<,sagt sie, und kommt dicht vor mir und Henry zum stehen. >>Hier, nehmt noch eine Kleinigkeit zu essen mit, damit ihr mir auf der Fahrt nicht verhungert.<<

Sie drückt ihrem Mann den Korb in die Hand, der sich sein Schmunzeln sichtlich verkneifen muss, und zieht mich wenige Sekunden später in eine feste Umarmung.

>>Ich hoffe du hattest schöne Ferien, mein Liebes. Weihnachten feiern wir dann bestimmt wieder in London, dann kannst du auch Emma öfters sehen. Und ruf in den nächsten Tagen an, ja!<<

Ich nicke an ihre Schulter, befehle meinem Herzen nicht zu sentimental zu werden und löse mich widerwillig aus Marys Armen. Die Tränen der letzten Nacht, deren endlosen Stunden mir wie die Hölle vorkamen, sind lange vertrocknet und doch sehe ich in Marys besorgten dunkelblauen Augen ganz genau, dass ihr auch die nicht entgangen sind. Die vergangenen Tage hab ich nur im Haus verbracht, was nicht zuletzt auch an dem Wetter lag. Aber vor allem war es der Schmerz, der tiefe Kummer und mein stechendes Herz, die in mir ein tiefes Gefühl der Traurigkeit hinterließen. Ich wollte niemanden sehen, musste mich zwingen, wenigstens zum Abendessen bei Mary zu erscheinen und dabei auch noch verhindern, nicht gleich in Tränen auszubrechen, wenn die Bilder von Isabell wieder vor meinen Augen erschienen sind. Isabell. Bei dem Gedanken an ihre weichen, zarten Lippen, ihren unvergleichlichen Duft und ihrer sanften Stimme steht mein Herz sofort wieder in Flammen. Bevor ich die Beherrschung noch verliere, werfe ich ein letzten Blick auf das große Haus, dem ich die schönsten Erinnerungen meiner jüngeren Jahre zu verdanken habe. Meine Augen wandern automatisch zu einem der vielen Fenster, die von dichtem Efeu umrankt sind. Die Hoffnung hinter den roten Vorhängen meinen Vater zu entdecken, wandelt sich Sekunden später in tiefe Enttäuschung um. Warum sollte er mich auch verabschieden, stelle ich mir traurig die Frage.

Mary drückt aufmunternd meine Schulter, als hätte sie meine Gedanken spüren können.

Ich versuche mich wieder zu sammeln, verabschiede mich ein ein letztes Mal und steige dann zu Henry ins Auto.
Während wir die Auffahrt hinunter fahren, beobachte ich wehmütig das große Anwesen, und Mary, die uns winkend hinterher schaut.

                            ***

Ich lasse den Koffer achtlos mitten im Raum stehen und werfe mich seufzend auf mein Bett.

>>Wir gehen schonmal vor zum Speisesaal. Kommst du dann nach<<,ruft mir Elli von der Tür aus zu.

>>Ja, mach ich. Ich muss mich nur einen Augenblick hinlegen<<,murmel ich, höre wenige Sekunden später wie Elli und Sofia das Zimmer verlassen und die Tür ins Schloss fällt.

Während ich die Decke anstarre, spüre ich den blumigen Duft von roten Pfingstrosen in meiner Nase. Isabells Duft. Sofort steigt Wut in mir auf. Wut auf mich selbst, weil ich sie einfach nicht aus meinem Kopf, meinen Erinnerungen und aus meinem Herzen bekomme. Und weil ich weiß, dass mir dies auch nie gelingen wird. In den dunklen Nächten, in denen ich denn Schlaf finde, taucht ihr wunderschönes Gesicht vor mir auf, ihre meeblauen Augen schauen mich sehnsüchtig an und ihre leise, sanfte Stimme flüstert immer wieder die gleichen Worten: Ich will bei dir sein, dich im Arm halten, aber ich darf es nicht.
Ich drücke mein Kopf fest in das Kissen unter mir, versuche die Tränen zurückzuhalten und nicht dem Drang nach zu kommen einen gedämpften Schrei aus Verzweiflung und Selbsthass herauszulassen. Doch ich siege nicht.

Captured- Im Netz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt