Glücklich

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Ich schloss die Tür ab und lehnte mich dagegen.

Ich fühlte mich erleichtert und frei.

Aber umso größer war meine Angst vor dem Ärger, der mich erwartete.

Ich klemmte die Lehne des Stuhles unter die Türklinke und sah in den Spiegel. Ich sah wundervoll aus. Meine Augen waren normal, nicht violett, meine Haut war etwas dunkler geworden, so dass ich nicht mehr krank aussah. Meine Lippen waren etwas blass, aber es sah noch hübsch aus. Meine Wellen sahen so aus wie vorher, aber insgesamt wirkte ich viel normaler und glücklicher.

Ich glaubte es nicht. Ich konnte so hübsch sein.

Ich hob die Hand, strich über den Spiegel. Das war keine Einbildung. Das war echt.

Ich lächelte.

Ich öffnete die andere Hand und legte mir die Kristallkette um. Der Splitter hatte die perfekte Länge und passte mir wie auf den Leib geschliffen.

Ich hörte wütendes Schreien. Mom hatte die Damen weggeschickt und war sehr wütend.

Ich erstarrte. Mom stapfte geräuschvoll die Treppen rauf.

"Verdammt!", murmelte ich und sah mich um. Mein Blick fiel auf das Fenster. Ich wohnte im zweiten Stock. Ein Baum war direkt neben meinem Fenster. Ich schob es auf und hangelte mich geschickt zu dem Baum herüber.

Mom trat gegen meine Zimmertür.

Ich erschrak und ließ los.

Ich fiel kaum zwei Meter.

Es tat nicht weh. Schnell rappelte ich mich auf und rannte davon.

Weit weg von hier.

Weit weg von Mom.

Weit weg von dem Ärger, den ich schon viel zu oft gespürt hatte.

Meine Beine trugen mich durch die Straßen und Gassen, über die Brücken und Pfützen. Nach einiger Zeit ging mir langsam die Luft aus.

Ich blieb stehen.

Um mich herum war es angenehm kühl. Ich drehte mich um.

Ich war wieder in der Unterführung. Die, in der ich vor knapp drei Wochen war. Alles war wie vorher.

Ich hatte Angst vor Mom, ich war vor Jemandem geflohen.

Aber nein. Alles hatte sich geändert.

Ich hatte mich wieder gefunden, in den Tiefen der Kristallwelt. Ich hatte Freunde gefunden, in dem Dunklen dieser Seele.

Ich war glücklich. Eine Träne rann mir über die Wange. Ich fing sie auf.

Sie war durchsichtig.

Kein Schimmer von Violett.

Die Jungs hatten mir gezeigt, wie man fröhlich ist. Ich seufzte. Am Ende würde ich wohl doch noch normal. Ich breitete die Arme aus.

"Danke!" Ich brüllte dieses Wort in die leere der Tunnel. Das Echo meiner Stimme hallte noch lange weiter.

Ich sank auf dem Boden zusammen und weinte.

Vor Glück.

Ich war ein normaler Mensch. Ich, die Irre aus der Nachbarschaft. Ich war das erste Mal in meinem Leben zum Zerreisen glücklich, ich konnte mein Herz fühlen. Es schlug fröhlich und gleichmäßig.

Ich umfasste Mikes Anhänger. Er lag warm auf meinem Schlüsselbein.

"Danke." Ich stand wieder auf.

Lächelte.

Jetzt konnte ich mich messen. Mit den Jugendlichen aus meiner Schule, die mich immer verachtet hatten.

Jetzt konnte ich mich mit den Leuten messen, die meinten, besser als ich zu sein.

Jetzt konnte ich mich mit jedem messen, der andere verabscheut, nur weil sie anders sind.

Alle Menschen sind gleich. Gleichwertig und vollkommen. Deshalb verdient es keiner, verachtet zu werden. Jeder hat es verdient, glücklich zu sein und zu leben.

Jemand näherte sich mir von hinten.

"Bitte.", flüsterte die Person. 

Ich glaubte es nicht.

Es war Chester.

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