Kapitel 46

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Unsanft wurde Felix geweckt. Er blinzelte und sah Zecke grinsend vor sich stehen. 

„Steh endlich auf! Du hast ausgesehen, als würdest du was ganz Furchtbares träumen. So was von Spießerwohnungen und Frisören. Oder noch schlimmer, schicken Anzügen! Also ich seh nur so aus, wenn ich von meiner ehemaligen Schule träume!“

„Und weil ich was Grässliches geträumt habe, hattest du Mitleid mit mir und hast mich mit einem liebevollen Fusstritt geweckt, danke auch,“ sagte Felix und rieb sich sein Bein. 

Sicherlich würde dort ein blauer Fleck zurück bleiben.

„Sei nicht so wehleidig! Ich gehe jetzt los, ich guck mal, dass ich ein wenig Kohle schnorre. Und du solltest heute auch sehen, wo du was zu Essen her kriegst. Noch mal füttere ich dich nicht mit durch!“, teilte Zecke ihm mit und machte sich daran das Abrisshaus, in dessen Erdgeschosswohnung sie seit längerem lebten, zu verlassen.

„Ich hab dir doch gesagt, dass ich hier im Moment nicht weg kann. Ich will mich in der Stadt nicht mehr blicken lassen!“, sagte Felix unglücklich.

Die letzten drei Wochen hatte er sich nicht mehr vor die Tür gewagt und Zecke hatte manchmal seine Vorräte mit ihm geteilt. 

Sie waren die letzten, die noch in dem Haus übernachteten, die anderen waren in den Park und an andere Orte zurück gekehrt.

„Ich hab dich lange genug gefüttert! Sieh selbst zu, wo du was zu Fressen her kriegst,“ sagte Zecke ungeduldig und winkte ihm kurz zu. „Ich bin dann weg!“

Felix erhob sich von der alten Matratze, auf der er die letzten Nächte verbracht hatte. Er öffnete ein Fenster und war froh, dass es in diesem Raum noch Fensterscheiben gab. „Wie ich das im Winter machen soll weiß ich auch noch nicht,“ dachte er besorgt.

Den vergangenen Winter hatte er, gemeinsam mit Zecke, bei diversen Bekannten von diesem verbracht. Doch Zecke hatte mit den meisten von ihnen Streit angefangen und so hatten sie dort nicht mehr länger bleiben können.

„Für diesen Winter haben wir gar nichts. Und er hat ja schon gesagt, dass ich sehen kann, wo ich bleibe. Er sei nicht mein Babysitter!“, dachte Felix und wusste, dass es wirklich nicht Zeckes Aufgabe war, auf ihn aufzupassen.

Vor dem, wovor er sich vor allem versteckte, konnte Zecke ihn auch überhaupt nicht beschützen. Niemand konnte das, und er selbst am allerwenigsten.

Doch daran wollte er jetzt nicht denken, es reichte, dass manche Dinge ihn in seinen Träumen heimsuchten.

„Und wenn ich noch mal mit Jessica spreche? Mit meiner Familie hat sie nichts zu tun, das glaube ich wenigstens nicht. Sie hätte ihnen ja auch einfach sagen können, wo ich bin. Das hat sie nicht gemacht,“ dachte Felix unsicher. 

„Und sie weiß über Dämonenstatuen Bescheid. Auch wenn Zecke sagt, dass sie eine Spießerin ist und dass man denen nicht trauen kann.....“

Aber Zecke kannte auch nicht die ganze Wahrheit, der glaubte, dass Felix es aus irgendwelchen, in Felix'Augen banalen Gründen, nicht mehr zu Hause ausgehalten hatte. 

Er vermutete Schulprobleme oder Eltern, die ihn zu sehr kontrollierten und einengten. Natürlich dachte er in keinster Weise an einen Dämon.

„Er würde mich für verrückt halten und fragen was für ein Zeug ich geraucht habe. Dann würde er mich fragen, ob er auch was davon haben kann,“ dachte Felix und musste bei der Vorstellung sogar ein wenig lachen.

„Jessica würde mir vielleicht glauben. Aber helfen könnte sie mir doch auch nicht. Ich könnte wohl kaum bei ihr wohnen und mich da verstecken. Das macht sie garantiert nicht. Und auch wenn sie sagt, dass man die Dämonen besiegen kann, wie soll das gehen? Er lebt bei uns auf unserem Anwesen und sie müsste außer an ihm auch noch an der ganzen Familie vorbei. Außerdem trifft es vielleicht auf andere Dämonen zu, dass man sie besiegen kann. Auf unseren wahrscheinlich nicht.....“

Beim Gedanken an den Dämon, den er manchmal Nachts gesehen hatte, wenn er durch den großen Garten des heimatlichen Anwesens schritt, lief Felix ein Schauer über den Rücken und er sah sich unwillkürlich um. Fast schien es ihm als könne das Wesen jeden Augenblick hinter ihm stehen und ihn davon schleppen, oder sich sofort seine Seele holen.

Er hatte den Dämon immer nur undeutlich und von weitem gesehen, doch das hatte ihm gereicht. Eine unheimliche Präsenz war von diesem Geschöpf ausgegangen und hatte ihn sich unter der Bettdecke verkriechen lassen.

„Ich wünschte Emily wäre hier, sie wüsste vielleicht, was ich machen sollte,“ dachte Felix und verdrängte den Gedanken an seine ältere Schwester, die nun ungefähr Jessicas Alter gehabt hätte, so schnell wie möglich.

Doch ein paar Erinnerungen stiegen in ihm auf. Er und Emily hatten sich, bis zu ihrem Tod, ein Zimmer geteilt. Oft waren sie Nachts, wenn unheimliche Schritte durch die ruhigen Gänge des Hauses hallten, oder der Dämon durch den Garten ging, in das Bett des jeweils anderen geflüchtet und hatten sich dort ängstlich aneinander geklammert und sich gegenseitig Mut zugesprochen.....

Felix griff, die Erinnerungen mit aller Gewalt verdrängend, statt dessen nach einer alten Zeitung. Diese lagen, auf einem Haufen, in einer Ecke des Zimmers. 

Joschi, einer seiner Bekannten, der von Zeit zu Zeit ebenfalls hier übernachtete, sammelte sie und stapelte sie. So hatte er immer ein wenig Lesestoff parat.

„Die ist von 1998,“ dachte Felix belustigt, als er eine Zeitung aus der Mitte des Stapels heraus zog. 

„Bleibt Berti Vogts Bundestrainer?“, stand als Überschrift dort und Felix versuchte sich an diesen Trainer zu erinnern. Doch im Jahr 1998 war er erst sechs Jahre alt gewesen. 

Er blätterte weiter und blieb schließlich am Stellenanzeigenmarkt hängen. „Lehrling ab 01.09.98 gesucht.Ausbildung zum Industriekaufmann,“ stand dort und mit Bedauern dachte Felix daran, dass er selbst wohl niemals eine wirkliche Ausbildung würde machen können.

„Dann brauche ich Papiere, einen Ausweis und solche Sachen. Und Zeugnisse. Ich hatte zwar bis letztes Jahr Privatunterricht. Aber einen Schulabschluss habe ich nicht. Und selbst wenn ich volljährig wäre und versuchen würde eine neuen Ausweis zu beantragen, dann brauche ich Unterlagen von Zuhause, eine Geburtsurkunde zum Beispiel! Aber die kann ich ja schlecht anfordern. Am besten noch mit Anschrift. „Bitte schickt sie nach....!“, dachte Felix und wurde mit einem Mal wütend.

Er knüllte die Zeitung zusammen. „Wegen denen kann ich mir gar kein richtiges Leben aufbauen. Ich kann mir keine Arbeit suchen, keine Ausbildung machen und wahrscheinlich auch keine Wohnung mieten. Wovon auch? Ich verdiene ja nicht. Aber so kann es doch auch nicht weiter gehen. Für immer will ich auch nicht auf der Straße leben, selbst wenn Zecke das cool findet!“

Gegen Mittag begann Felix Magen zu knurren und er holte einen, von Zecke angebissenen, Apfel aus einer alten Tasche hervor. 

Leider war es der letzte. Hungrig biss er hinein und hoffte, dass Zecke seine Drohung, ihm nichts zu Essen mitzubringen, nicht wahr machen würde.

Leider hielt Zecke sein Wort. Am späten Nachmittag kehrte er zurück und brachte eine Flasche Bier, einen Hamburger und ein paar Fritten mit.

Doch als Felix einen hungrigen Blick auf das Essen warf grinste der andere ihn an. „Sieh zu wo du was her bekommst! Das ist alles meins.“

Mit fast schon demonstrativen Genuss aß Zecke seinen Hamburger und die Fritten, dann leerte er sein Bier und zog zum Schluss noch einen Schokoriegel aus einer Tasche. Auch diesen aß er betont langsam und erwähnte von Zeit zu Zeit, dass dies seine Lieblingsschokolade war.

„Du bist ekelhaft!“, entfuhr es Felix, aber Zecke lachte. „Bin ich nicht! Ich bin bloss satt......im Gegensatz zu dir! Viel Spaß beim Verhungern! Aber so schnell geht das nicht.“

Am liebsten hätte Felix dem anderen den letzten Rest des Schokoriegels aus der Hand gerissen, doch Zecke schien das zu ahnen und stopfte ihn sich in den Mund, ehe er sich auf seiner Matratze zurück lehnte.

Mit knurrendem Magen versuchte Felix an diesem Abend Schlaf zu finden. „Immer noch besser als zu Hause,“ versuchte er sich zu trösten. „Aber so kann es auf Dauer nicht mehr weiter gehen!“

Dämonische Statuen  Jessicas GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt