Kapitel 6

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"Na hoffentlich sehe ich dich wieder." War der einzige Gedanke, der in meinem Kopf herumschwirrte, nachdem Lucia mein Zimmer verlassen hatte.

Ich blickte kurz auf meine Uhr. 15:20. Gleich ist die Zwischenmahlzeit und ich schätze, dass Lisa mich erwartet. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Einerseits, da ich schon wieder mit Essen konfrontiert werde, andererseits fühle ich mich immer noch schlecht, dass ich nicht ehrlich zu Lisa gewesen bin. Ich wechselte meine Shorts gegen eine Jogginghose, da keine Jeans über den dicken Verband gepasst hätte.

Kurz darauf verließ ich mein Zimmer und merkte, wie orientierungslos ich hier doch war. Ich blickte mich um, doch jeder Gang sah gleich aus. Verzweifelt lief ich jeden einzelnen Raum ab, doch der Essensraum war weit und breit nicht in Sicht. Gerade als ich aufgeben wollte, wurde ich von hinten angetippt. "Kann ich dir helfen?" Fragte eine fremde Stimme. Erschrocken drehte ich mich um. Dort blickte ich in zwei eisblaue Augen, die mich fragend ansahen. "Ja, wäre ganz nett. Ich muss in den Essensraum." Antwortete ich. "Das dachte ich mir. Folge mir." Sagte sie und ging mit schnellen Schritten an mir vorbei. "Bist noch nicht lange da, hm?" Fragte das Mädchen, während ich ihr immer noch hinterherlief. "Nein, erst seit heute morgen." "Du wirst dich schon noch an alles gewönnen."

Während sie dies sagte, drehte sie sich kurz um und lächelte mich an. Ich lächelte unsicher zurück und versuchte mir den Weg so gut es ging einzuprägen. Am Essensraum angekommen blieb das Mädchen stehen. "Wie heißt du eigentlich?" "Bella und du?" "Eveline." Ich merkte, dass sie noch etwas sagen wollte, aber in diesem Moment kam ihre Vertrauensperson und sie verschwand im Essensraum. Ich wartete noch fünf Minuten, doch von Lisa war weit und breit keine Spur. Also beschloß ich schonmal rein zu gehen und dort auf sie zu warten.

Drinnen angekommen dasselbe Bild wie heute Mittag. Patienten, die vor ihrem Essen saßen und alles taten, außer zu essen. Ich wollte gerade ein Tablett holen, als ich Lisa an einem Tisch sitzen sah. Sie war gebeugt über Unterlagen und schien nichts mitzubekommen. Ich ging auf sie zu und setzte mich leise auf den Stuhl ihr gegenüber. Doch dies schien sie schon komplett aus ihren Gedanken zu reißen, da sie kurz zusammenzuckte. "Oh Gott entschuldige. Ich habe gar nicht mit dir gerechnet." Sagte Lisa und ich sah ein kleines Lächeln auftauchen. Dieses verschwand aber sofort wieder und ihr Blick senkte sich. "Es tut mir leid, was ich vorhin zu dir gesagt habe. Ich hätte dich nicht so angehen sollen. Ich.. ich will einfach, dass wir eine gute Verbindung haben und uns vertrauen und.." "Bitte Lisa du musst dich nicht entschuldigen oder rechtfertigen. Es war falsch dich anzulügen, aber es ist eben auch schwer für mich, sich nach einem halben Tag einer Person zu öffnen und anzuvertrauen, verstehst du?" Unterbrach ich Lisa. Sie nickte. "Ich verstehe. Ich schätze wir sollten das einfach aufs erste vergessen. Aber in Zukunft stehen keine lügen mehr zwischen uns, okay?" "Okay keine lügen mehr." Nun lächelte Lisa wieder und ihr Blick wirkte wieder viel wärmer. "Schön, dass du zur Zwischenmahlzeit gekommen bist. Wollen wir anfangen?" Ich nickte nur.

Gerade noch erleichtert, dass das zwischen Lisa und mir endlich geklärt ist, machte sich wieder dieses Gefühl breit, wie ich es schon beim Mittagessen hatte. Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass Lisa gegangen ist, um mein Essen zu holen. Panik stieg in mir auf. Sie ist weg. Soll ich wieder abhauen? Aber ich will sie nicht schon wieder enttäuschen. Ich führte einen Konflikt mit mir selbst, bis ich sah, dass Lisa wiederkam und mir klar wurde, dass ich da jetzt durch muss. "Dies ist eine wirklich kleine Zwischenmahlzeit." Sagte Lisa und stellte das Tablett vor mir ab. Ich sah die Schüssel und den Zettel auf dem "150 g Naturjoghurt mit Obst." stand an.

Mir wurde augenblicklich schlecht. Ich griff mir aus Reflex an den Bauch, da ich das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen. "Hey es ist alles gut. Du musst nicht alles essen. Trinke erstmal ein wenig Wasser." Versucht Lisa mich zu beruhigen. Ich nippte an meinem Glas und merkte sofort, wie die Übelkeit ein wenig verflog. Immer noch angespannt nahm in den Löffel in die Hand. Ich konnte gerade selbst nicht glauben, was ich da tat. Langsam tauchte ich den Löffel in den Joghurt und füllte ihn ein bisschen. Nun hob ich den Löffel wieder und zwischen ihm und meinen Mund waren nur noch wenige Zentimeter. Ich schaute ihn eine Weile an, als ob es etwas unfassbar bewundernswertes wäre. Im Augenwinkel sah ich Lisa, die mich die ganze Zeit im Auge hatte und manchmal ein paar Notizen machte. Ich ließ mich von ihr aber nicht aus der Ruhe bringen und sah den Löffel weiter an. Ich hörte meinen Bauch leise knurren und spürte dieses Verlangen nach dem Joghurt. Ich zögerte kurz doch dann, nach gefühlten Stunden, nahm ich meinen ersten Löffel. Die klebrige Flüssigkeit machte sich in mir breit und mein Magen verschlang es und forderte sofort nach mehr. Ich entschied mich zu einem zweiten Löffel und diesmal klebte sich noch ein Stück Apfel dran. Ich aß auch diesen. Nach dem zweiten Löffel aber wurde mein schlechtes Gewissen stärker, wie mein Hunger und ich entschied mich aufzuhören.

Um zu zeigen, dass ich mit dem Essen fertig bin schob ich mein Tablett ein wenig weg von mir. Schwitzend, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen, wischte ich mir die Schweißperlen von der Stirn. "Das war doch schon mal ein guter Anfang." Sagte Lisa und lächelte mich ermutigend an. Ich sagte nichts, sondern nippte nur an meinem Glas.

"Nun möchte ich dir noch ein paar Fragen stellen, die wir ab jetzt immer nach dem Essen besprechen. Meine erste Frage wäre wie du dich gefühlt hast, während du gegessen hast." Ich überlegte nicht lange und antwortete. "Schlecht. Ich fühle mich, als würde ich etwas tun, was ich eigentlich nicht darf. Etwas verbotenes." Lisa notierte es sich schnell und fuhr fort. "Was hast du nun vor, nach dem Essen zu machen?" Nun zögerte ich. Mein Körper spannte sich an und ich musste an Lisas Worte denken. Keine Lügen mehr. "Ich will es wieder erbrechen." Ich sah Lisa an, dass sie etwas sagen wollte, doch sie stoppte und hielt kurz inne. "Gut das wars. Wir sehen uns später." Ich schaute sie nur noch verwundert an, als sie daraufhin aufstand und ging.

Zwischen Magersucht und Spaghetti Bolognese Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt