Kapitel 48.2 - Die Katze im Turm

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Es war still. Ungewöhnlich still. Beinahe beunruhigend still. Ich schlich schon fast die Treppe hinauf. In mir kam ein mulmiges Gefühl auf. Ich schluckte. Je höher ich stieg, desto schwerer wurde das Gefühl eines Steins in meinem Magen. Doch ich riss mich zusammen.

"Du läufst jetzt nicht davon.", murmelte ich leise vor mich hin. Und das würde ich auch nicht. Nicht mehr. Wie sollte auch nur irgendjemand mir gegenüber Respekt erweisen, wenn ich immer vor meinen Problemen davon lief? So konnte mich doch niemand ernst nehmen!

Ich befand mich bereits in dem Gang mit den Familienwappen, doch ich beachtete sie nicht. Mein Blick lag stur auf der Tür, die ich das letzte mal schon nicht geöffnet hatte. Doch dieses mal würde es anders sein. Ich blieb vor der Tür stehen, atmete tief ein und aus, streckte langsam meine Hand nach vorne zum Türgriff.

Ob mein Herz raste? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht einmal, ob es noch schlug. In meinen Ohren rauschte das Blut. Wenn ich das hier vergeigte, würde mich Dylan auf ewig hassen und der Hass seiner Geschwister käme noch mit dazu. Und was würde mit Desdemona und Liam sein? Würde Liam wieder so abweisend zu mir sein? Würde er wieder alles darauf anlegen, es mir hier schwer zu machen?

Es kam mir so vor, als würde alles von diesem Moment abhängen. Wirklich alles. Und das machte es nicht gerade leichter für mich, diesen unsichtbaren Druck zu vergessen. Es war keine Hilfe in Mission-Ariadne.

Ich schloss einmal kurz meine Augen, zwang mich dazu, ruhiger zu werden, die undurchdringliche altbekannte Maske legte sich über mein Gesicht, als ich wieder meine Augen öffnete. Entschlossen umfassten meine Finger die kühle Türklinke ich drückte sie herunter. Die Tür öffnete ich mit einem Ruck. Dahinter erstreckte sich mir ein alter, aber gemütlich aussehender Dachboden in Kreisform. Holzbalken stützten das Dach, ein sehr alt aussehendes Bücherregal stand hinten im Raum, die Bücher Spinnenweben überzogen. Daneben war ein roter Ohrensessel auf dem verstaubte Brettspiele lagen. Ich war fasziniert, bewunderte diesen Raum, der mich scheinbar um einige Jahrzehnte zurück katapultierte.

Doch da riss mich ein leises Schluchzen aus dem Staunen und meine Augen suchten die Verursacherin. Ariadnes Arme umschlangen ihre Beine und so hockte sie auf einem Bett, das bereits bessere Zeiten gesehen hatte. Und selbst wie sie da noch hockte, wirkte sie ungewöhnlich anmutig. Wie eine Katze.
Über dem Bett, genau auf Ariadnes Höhe gab es ein kleines rundliches Fenster, durch das spärlich Licht fiel.

Ariadne starrte mit trüben Augen hinaus, schien mich entweder nicht zu bemerken, oder beachtete mich absichtlich nicht. Langsam bewegte ich mich auf sie zu. Hatte ich irgendeinen Plan? Nein. Ich hatte gar nichts. Rein gar nichts. Ich würde improvisieren. Doch ob das so gut war wusste ich nicht. Ich würde es einfach versuchen. Eigentlich sollte man meinen, dass ich einen Plan hätte. Aber nein. Dabei hing wirklich sehr viel an dem Ende dieser Aktion. Und ich durfte mir wirklich keinen Fehler erlauben. Aber Fehler zu machen war ziemlich leicht. Besonders bei mir. Ariadne hasste mich sowieso schon. Das machte das Ganze noch einmal um einiges schwerer. Hinzu kam, dass sie auch noch Angst vor mir hatte. Wie groß diese Angst noch war konnte ich allerdings nicht sagen.

"Du brauchst nicht leise zu sein.", erklang da auf einmal Ariadnes Stimme. "Ich wusste, dass du mich suchen wirst. - Obwohl, von suchen kann ja bei dir nicht die Rede sein. Du wusstest von Anfang an, wo ich hingehen würde." Ich spannte mich an. Ihre Stimme klang vollkommen unbekannt. Sie klang rau und kratzig. Ariadne klang völlig fertig und kraftlos. Nicht einmal ein Hauch von Feindseligkeit schwang in ihrer Stimme mit.

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Weshalb war Ariadne so ruhig? Wollte sie irgendetwas damit bezwecken? Wo blieb die eiskalte Ariadne, die ich kennen gelernt hatte? Ich stockte. Oder war das alles nur eine Maske? Eine Maske, die Ariadne aufgesetzt hatte, um sich selbst hinter einer Mauer aus Kälte und Arroganz zu verstecken? Wer war nun die echte Ariadne? Waren sie und ich letzten Endes gar nicht mehr so unterschiedlich?

"Du hast meine Geschwister hergeholt. Ich kenne den Zweck dahinter. Du und die beiden anderen - die meiner Meinung nach übrigens beide ziemliche Versager sind - glaubtet, ihr würdet mir damit helfe." Sie lachte ein leises, raues Lachen. Ihr Zeigefinger strich sanft über die verstaubte Fensterscheibe. Sie sah mich immer noch nicht an, aber ich bemerkte, wie die Wut in mir aufkam. Desdemona und Liam waren alles andere als Versager! Doch ich zwang mich diese Welle an aufkommender Wut herunter zu schlucken. Es war ein miserabler Zeitpunkt, um die Kontrolle zu verlieren und sich der Wut hinzugeben. Und ich wusste ja, wozu meine Wut führen konnte.

"Doch weißt du was? Niemand kann mir helfen. Und ich brauche auch keine Hilfe. Ich brauche überhaupt niemanden!" Sie ließ ihren Finger auf der Scheibe stoppen und legte ihre ganze Hand auf die glatte Oberfläche. Mir entging der Frost nicht, der sich unter Ariadnes flacher Hand langsam über die gesamte Scheibe ausbreitete. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, sie hatte es von mir abgewandt. Doch ich sah, wie sie sich verkrampfte.

"Du hättest sie nicht herbringen dürfen! Sie sollten niemals erfahren, was aus mir geworden ist! Und jetzt wissen ausgerechnet die Jäger, dass auch ich eine Schwäche habe!", presste Ariadne zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Ihre flache Hand ballte sich krampfhaft zu einer Faust. Plötzlich rutschte ihre Faust von der Scheibe und Ariadne machte sich nicht die Mühe, ihre Hand wieder auf die Scheibe zu legen. "Lass die Jäger niemals wissen, dass du eine Schwäche hast! Lass es sie niemals wissen! Sie können und werden es gegen dich verwenden, wenn ihnen etwas nicht passt! Und es ist ihnen egal, ob du nun ein Verbündeter oder ein Feind bist!", sprach sie leise, aber mit einer festen Stimme.

In mir kam das Gefühl auf, alles falsch gemacht zu haben. Und jetzt wo Ariadne davon redete, kam es mir vollkommen klar vor. Ich hatte die Drillinge in Gefahr gebracht, indem ich sie hier her geholt hatte. Denn nun wussten die Jäger von ihnen und scheinbar war ihnen alles egal, wenn sie nur das bekamen, was sie wollten. Ariadne war für sie so unberechenbar gewesen, weil niemand ihre Schwäche kannte und niemand sie somit erpressen konnte.

Nun hob sie langsam ihren Kopf und drehte ihn in meine Richtung. In ihre eisblauen Augen glitzerten die Tränen wie Eiskristalle, doch irgendwie sah sie nicht mehr gebrochen aus, sondern vollkommen gefasst und entschlossen. Ich wusste nicht, ob es das war, was mich Respekt vor Ariadne haben ließ. Aber vermutlich war es das. Sie würde nicht aufgeben. Und welchen Schritt sie nun auch immer gehen mochte, sie würde genau wissen, was sie tat und was für Folgen das für sie haben würde.

Doch plötzlich sagte sie etwas, was mir das Blut in meinen Adern gefrieren ließ. Ariadnes Stimme war ruhig und stark. Es klang ein wenig wie eine Drohung, doch ich war mir dieses mal nicht wirklich sicher, ob es auch wirklich so war. Ich konnte Ariadne nur schwer einschätzen und das mochte ich überhaupt nicht. Aber eines machte mir viel mehr Sorgen. Sie kannte meinen Namen. Meinen richtigen Namen. Sie wusste, wer ich war. "Ich kenne deine Schwäche, Mika Lunar-Eclipse." Und dieses katzenhafte Grinsen auf ihren Lippen machte es nicht besser.

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