Kapitel 2

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Etwas kitzelte ihn an der Nase, holte ihn aus den traumlosen Tiefen seines wohlverdienten und dringend benötigten Schlafs.

Etwas unwirsch rieb er sich mit dem Handrücken über die Nase, dann noch einmal, knurrte vorsichtshalber einmal leise in die Richtung, aus der er die Störung und die unangenehme Penetration seiner Nase vermutete. Doch auch sein Knurren schien in keinster Weise von Erfolg gekrönt und so beschloss er widerstrebend, das nutzlose Knurren einzustellen und stattdessen doch die Augen zu öffnen und den Störenfried, der noch immer seine Nase angriff, mit seinem eisigsten Blick zu verjagen.

Doch kaum hatte er die Augen mehr als eineinhalb Millimeter geöffnet, wurde ihm schlagartig bewusst, dass dies ein Fehler gewesen war. Denn augenblicklich traf ihn der Sonnenstrahl, der zuvor nur seine Nase gekitzelt hatte, auch mitten ins Auge, fuhr ihm direkt in sein Hirn und wütete dort wie ein heißes Messer in seiner sich an diesem Morgen seltsam schwammig anfühlenden Gehirnmasse herum.

Schnell schloss er die Augen wieder und stöhnte leise auf.

Sein Kopf schmerzte und nur langsam gelang es ihm gedanklich zu der Frage durchzudringen, warum es ihm denn um Himmels willen bitte schön so elend ging. Und noch länger dauerte es, bis er sein wachsweiches Gehirn dazu überreden konnte, einige Details des gestrigen Abends zu enthüllen. Denn dort vermutete er die Ursache für seinen bescheidenen Allgemeinzustand an diesem Morgen.

Und richtig – er erinnerte sich.

Rolfi hatte Geburtstag und ihn mit in diesen schrecklichen Gruselkabinett-Club geschleppt und dann mal wieder alleine gelassen, woraufhin er sich ein paar Bier genehmigt hatte. Und offensichtlich waren dies ein paar Bier zu viel gewesen. Und dann hatte er Mark kennen gelernt und mit diesem ebenfalls noch ein paar Bier getrunken, bis sie dann zusammen...

Mit einem Schlag saß er kerzengerade im Bett, nur um mit einem leisen Aufstöhnen sofort wieder in die Kissen zu sinken, als nicht nur ein beinahe unerträglicher Schmerz einmal quer durch seinen Kopf schoss, sondern auch sein Mageninhalt, der sich in diesem Moment das erste Mal so richtig bemerkbar gemacht hatte, beinahe seinen natürlichen Aufbewahrungsort verlassen und den Weg in höhere Gefilde angetreten hätte.

Und doch konnte dies alles nicht verhindern, dass sie nun, einmal entfesselt, ungehemmt und erbarmungslos auf ihn einprasselten – die Bilder der vergangenen Nacht.

Ebenso ungeheuerlich wie intensiv.

Und sich von innen in seine geschlossenen Augenlider zu brennen schienen.

Seine Hände an Marks Hintern.

Marks Lippen an seinen Lippen.

Marks Lippen an seinen Brustwarzen.

Marks Lippen an ...

Shit!

Unwillkürlich fasste er sich mit beiden Händen an die Schläfen, drückte zu, doch die Bilder ließen sich nicht ausblenden. Stattdessen konnte er die Szenen der letzten Nacht inzwischen nicht nur sehen, sondern auch noch hören.

Sein Stöhnen in Marks Ohr.

Seine Stimme, die leise Marks Namen rief.

Das unbeschreibliche Geräusch seines Unterleibs, der sich immer wieder an Marks Unterleib drückte und rieb.

Stärker presste er seine Hände an die Schläfen.

Doch die Tatsachen ließen sich weder verleugnen noch vertreiben und schon gar nicht aus seinem Kopf herauspressen.

Er hatte vergangene Nacht Sex mit einem anderen Mann gehabt.

Und verdammt noch mal – er hatte es genossen.

Seine Augenlider flogen wieder auf und unwillkürlich drehte er den Kopf nach rechts.

Und sah Mark dort liegen.

Tief und fest schlafend, mit geschlossenen Augen, die wundgeküssten Lippen zu einem leichten Lächeln geöffnet, die Haare von vergangener Nacht und dem Schlaf zerwühlt.

Fast wie ein Engel.

Und doch eher seine persönliche Apokalypse.

Fuck!

Wieder schloss er die Augen, drückte seine Finger – einem Impuls folgend – noch stärker gegen seine Schläfe, massierte seinen schmerzenden Kopf, in dem seine Gedanken in derselben Geschwindigkeit Karussell fuhren wie die Welt sich um seinen noch immer alkoholschweren, katerbedrohten Kopf drehte. Und trotzdem zwang er sich dazu, seine Gedanken zu ordnen, versuchte der Karussellfahrt seines Hirns ebenso sehr zu trotzen wie dem pulsierenden Schmerz in seinem Schädel, versuchte herauszufinden, was er als nächstes tun sollte.

Denn die Tatsache war nicht wegzudiskutieren – er hatte Sex mit Mark gehabt. Irgendetwas an Mark hatte ihn angesprochen, ihn fasziniert, ihn angemacht. Und er hatte sich hinreißen lassen, hatte eine Grenze überschritten, der er bisher immer so erfolgreich ausgewichen war.

Aber – und war das nicht das entscheidende Aber? – genauso wenig war die Tatsache wegzudiskutieren, dass das alles mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht passiert wäre, wenn er nicht rettungslos betrunken gewesen wäre.

Die ganze Geschichte der vergangenen Nach war doch letztlich nur ein alkoholbedingter Ausrutscher und nicht mehr.

Ein Ausrutscher, der nichts zu bedeuten hatte.

Ein Ausrutscher, den er in die Schublade ‚Erfahrung' schieben würde.

Und dann würde er diese Schublade abschließen, den Schlüssel wegwerfen und – ähnlich der Büchse der Pandora – nie wieder öffnen.

Und genau deshalb – wäre es mit Sicherheit das Beste, wenn er jetzt leise und vorsichtig aufstehen, seine Kleider zusammen suchen und diese Wohnung hier verlassen würde, solange Mark noch schlief. Wenn er Mark und der letzten Nacht für immer den Rücken zuwenden und zurückkehren würde in sein eigenes, heterosexuelles, normales, zufriedenes Leben.

Und damit auch wieder sang- und klanglos aus Marks Leben verschwinden.

Ohne diesen zu wecken.

Ohne noch etwas zu sagen.

Ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Vielleicht nicht gerade die feine englische Art, aber sicherlich für beide Seiten am besten so.

Denn was wäre die Alternative?

Würde Mark sich nach dem Aufwachen mit einem fröhlichen „Ich geh mich mal frisch machen, warte hier" unter die Dusche und dann in die Küche stellen, um ihm nur kurze Zeit später mit einem seligen Lächeln und einem dieser kitschigen Tabletts, auf dem dann eine Tasse Kaffee, ein Brötchen, Marmelade, ein Frühstücksei und zur Krönung ein einsames Blümchen in einer kleinen schmalen Vase stehen würde ein romantisches Frühstück im Bett zu präsentieren?

Sicher nicht.

Da war es doch viel wahrscheinlicher, dass der Morgen nach dem Erwachen in dem verkrampften Versuch einer lockeren Stimmung enden würde. Nicht ohne sich als peinlichen Höhepunkt an der Tür nach vielem Herumgedruckse gegenseitig zu versichern, dass es eine nette Nacht mit einem sympathischen Menschen gewesen war, die man aber niemals wiederholen würde, so dass man sich endlich voneinander verabschieden konnte, nicht aber ohne dem anderen noch ein schönes Leben zu wünschen. Denn dass dieses kleine nächtliche Intermezzo für Mark mehr bedeuten könnte als ein unbedeutender One-Night-Stand – war doch völlig ausgeschlossen. Und so tat er im Grunde sogar sich und Mark einen Gefallen, wenn er einfach still und leise verschwand, während dieser noch schlief.

Also – stand er leise und vorsichtig auf, ignorierte sowohl seinen pochenden Schädel, als auch seinen aufgepeitschten Mageninhalt, der sich orkanartig permanent nach oben schrauben wollte, sammelte stattdessen seine Kleidung zusammen, zog diese über und schickte sich schließlich an zu gehen.

Er hatte Marks Schlafzimmer schon beinahe verlassen, als er sich – einem plötzlichen Impuls folgend – an der Tür noch einmal umdrehte und zu Mark hinübersah, der noch immer tief und fest in seinem Bett schlief.

Den Körper nur halb von der dünnen Bettdecke verdeckt.

Das Haar noch immer zerstrubbelt.

Der Mund noch immer zu einem leichten Lächeln geöffnet.

Die Augen noch immer geschlossen.

Und völlig unerwartet, blitzartig und durch und durch irrational überkam ihn ein Gefühl des Bedauerns und des Verlustes, als er daran dachte, dass er nie wieder in Marks wunderschöne Augen sehen würde.

Noch einen Moment länger blieb er im Türrahmen stehen, starrte, zögerte, wartete, ohne zu wissen worauf.

Doch dann – riss er sich mit einem Ruck los, drehte sich um, kehrte Mark den Rücken zu und verließ dessen Wohnung, um endgültig nach Hause zu gehen – zurück in sein altes Leben.

Leseprobe - Zu anderen UfernWhere stories live. Discover now