SOKRATE † FLUCHT

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Montag, 22. September 2014

Ich sehe die Nacht hereinbrechen. Dunkelheit umhüllt nach und nach die karge Landschaft, mir wird zunehmend kälter. Ich muss mich beeilen, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. In wenigen Minuten wird es zu spät sein, alles vorbei, mein Leben sich in Luft auflösen, meine Erinnerungen sich verflüchtigen, mein Ich im Nichts verschwinden. Was habe ich mir nur dabei gedacht. Dass ich jetzt hier stehe, an diesem Ort, von dem niemand etwas ahnt, geschweige denn weiß, habe ich wieder einzig meinem sturen Kopf zu verdanken.

Ich erreiche den Wald, mein Herz schlägt höher. Was werden die Folgen von meinem unerwünschten Eindringen hier sein? Schreckliche Gedanken gehen mir durch den Kopf. Aber es ist die Gefahr wert, oder? Ich habe viele wichtige Informationen bekommen, welche die Menschheit vor einer gewaltigen Bedrohung schützen könnten. Vorausgesetzt, es kommt jemals dazu, dass sie einen Menschen erreichen. Und die Chance, dass der mir diese unvorstellbaren Dinge dann auch ohne jegliche Beweise glaubt, ist gleich null. Aber um lange darüber nachzudenken, bleibt mir keine Zeit. In dem Moment ist nur eines wichtig: Rennen. Allzu weit kann es nicht mehr sein. Ich hetze durch den düsteren Tannenwald, doch lange halte ich nicht mehr durch. Nur noch ein paar letzte Sonnenstrahlen erreichen den von dunkeln Tannennadeln übersäten Waldboden. Langsam aber sicher neigen sich meine Kräfte dem Ende zu. Die Ereignisse der letzten Tage haben sich überschlagen, ich habe kaum Zeit gehabt mich auszuruhen und musste immer auf der Hut sein. Jeden Moment darauf gefasst, dass das Unmögliche zur Realität wird.

Ich bin am Ende. Keuchend und mit stechenden Schmerzen in der Seite bleibe ich kurz stehen. Der Schweiß rinnt mir die Stirn herab. Die Hände auf die Knie gestützt, lausche ich in die Dämmerung hinaus und spähe mit zusammengekniffenen Augen zwischen den Baumstämmen hindurch. Außer dem Knarren der alten Tannen im Wind ist noch nichts zu hören. Erleichtert atme ich auf, vielleicht gibt es doch noch eine Möglichkeit meinem Schicksal zu entkommen. Am liebsten würde ich mich jetzt hinlegen, einschlafen und aus diesem Albtraum erwachen. Doch das würde nicht passieren, da bin ich mir sicher. Schmerzerfüllte Schreie aus der Ferne holen mich in die Realität zurück. Alles um mich herum wird von der Finsternis verschlungen. Es ist soweit. Ich habe zu lange gewartet. Aber ich kann es schaffen, noch ist nichts verloren.

Plötzlich kann ich die Silhouetten der Felsbrocken und Bäume im fahlen, silbernen Mondlicht schimmern sehen. Er ist aufgegangen. Unter anderen Umständen hätte mich dieses Schauspiel erfreut, der Mond hat mich schon immer fasziniert. Doch leider bedeutet der Mond in meiner Situation nichts Gutes. Jetzt werden sie in Scharen angerannt kommen... Ich muss mich weiter mit letzter Kraft aus dem Wald kämpfen. Die ersten kann man bereits heulen hören. Ein unheimlicher Laut, der darauf hindeutet, dass sie sich versammeln. Ein Zittern durchfährt meinen kräftig gebauten Körper, als ich mir vorstelle, was gleich geschehen könnte. Aber jetzt kann ich nicht aufgeben. Ich bin so weit gekommen. Selbst wenn ich hier auf der Stelle tot umfalle vor Überanstrengung, ist mir das lieber, als ihnen schutzlos ausgeliefert zu sein.

Meine schnellen Schritte werden vom Erdboden gedämpft. Das hier ist nichts als eine öde Landschaft, geprägt von alten, kranken Bäumen und gewaltigen Findlingen aus schwarzem Gestein. Die gesamte Landschaft widerspiegelt gewissermaßen die schrecklichen Dinge, die von Zeit zu Zeit geschehen. Ausgelöst durch diese Wesen. Ich fühle mich klein, bedrückt, unfähig gegen diese Macht anzukämpfen.

Kaum habe ich die letzten Bäume hinter mir gelassen, erblicke ich es. Gewaltig, voller dunkler Magie, steht es am Fuße des Hügels. Würde ich es erreichen, wäre ich gerettet. Ich stolpere den steilen Abhang hinunter, falle ein paar Mal hin und kämpfe mich dann wieder auf die Beine. Das Heulen kommt immer näher. Vielleicht noch hundert Meter ist das rettende Portal von mir entfernt. Was würde ich nicht dafür geben, um diese Welt verlassen zu können? Um lebend hier herauszukommen, meine Familie wieder zu sehen? Mit einem großen Satz springe ich über den verfallenen Holzzaun, der das Gelände umgibt, und steuere zwischen den mit Unkraut überwachsenen Gräbern auf das Portal zu. Kann ich noch aus diesem Albtraum entkommen?

Vor dem riesigen Stein bleibe ich stehen und verschaffe mir einen Überblick. Der Mond schimmert silbern am Horizont über den Baumwipfeln. Von ihnen ist noch nichts zu sehen. Ich krame in meiner Hosentasche nach dem Amulett und halte es mit zitternden Händen vor das Portal. Ein überirdischer Laut ist zu hören, und von der Mitte aus breitet sich ein matter, schwarzer Schleier auf dem Gestein aus, bis nur noch ein Torbogen übrig bleibt. Gleich habe ich es geschafft. Ich gehe auf den Schleier zu. Dann werde ich von zwei kräftigen Pranken an den Schultern gepackt und mit gewaltiger Wucht zu Boden gerissen. Ein stechender Schmerz durchfährt meinen Körper. Als ich versuche wieder aufzustehen, werde ich durch einen weiteren Prankenschlag an die Brust erneut auf den Boden geworfen. Mir verschlägt es den Atem, der Schädel brummt vom harten Aufprall. Vor meinen Augen flimmern die Portalschwaden. Ich fühle mich benommen, alles dreht sich langsam in meinem Kopf. Wie aus der Ferne kann ich hören, wie immer mehr dazukommen, alle drängen sich um meinen schutzlosen Körper. An meinen Händen spüre ich ihren kalten Atem, es riecht nach Blut. Mir kommt es so vor, als würden sie zögern. Sie warten auf etwas. Ich habe Angst vor dem, was mich jetzt erwartet. Lieber wäre ich tot im Wald umgefallen und für immer vergessen gegangen, als einer von ihnen sein zu müssen. Ich wünsche mir nur noch, dass sie es jetzt tun. Sofort.

Dann, plötzlich, weichen sie ehrfürchtig leicht zur Seite. Ich denke schon darüber nach, ob sie abgehauen sind, da bohren sich seine rücksichtslosen Zähne tief in mein Fleisch, der ganze Körper schmerzt höllisch. Ich bin wie gelähmt, liege da und wünsche mir, dass ich nie hierher gekommen wäre. Dann müsste ich das alles nicht ertragen. Er steht direkt über mir, mustert mich genau. Das Gift verteilt sich langsam im Körper, ich fühle wie mein warmes Blut das Bein herabläuft. Alles dreht sich immer schneller, ich nehme nicht mehr viel wahr. So fühlt sich das also an. Alles ist vorbei, nun würde ich für immer einer von ihnen sein. Den Werwölfen. Ein letzter Ruck durchfährt meinen Körper, meine Gedanken schweifen ab. Das einzige, was mein altes Ich zurücklässt, ist eine weitere Inschrift auf dem riesigen Grabstein mit meinem Namen. Sokrate Falcon.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 12, 2016 ⏰

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