Als Ava am nächsten Morgen vor die Tür trat, empfing sie eine graue und nasskalte Nebelsuppe. Soviel zum goldenen Herbst. Die Feuchtigkeit legte sich unangenehm auf ihr Haar und ihre Finger fühlten sich jetzt schon klamm an. Am liebsten wäre sie direkt wieder zurück in ihr Bett gekrochen. Statt dessen zog sie sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf und die Ärmelenden, die unter dem Mantel hervorlugten, über die Finger. Wusste der Geier, wo ihre Handschuhe schon wieder abgeblieben waren. Widerwillig schwang sie sich aufs Rad. Eine Spazierfahrt würde das heute nicht werden. Aber sich stattdessen zwischen all die Schnupfnasen im miefigen Zug quetschen? Nein, darauf konnte sie getrost verzichten. Ralf hatte heute erst zur dritten Stunde Unterricht. Er war einer der wenigen Menschen, dessen Gesellschaft sie fast immer dem Alleinsein vorziehen würde. Daher warf sie im Vorbeifahren einen kleinen, wehmütigen Blick in die Schillerstraße.
Sie kämpfte sich gerade den Hügel hinter der Unterführung hinauf, als ein kleiner, roter Peugeot an ihr vorbeibrauste. Die Sicht war mehr als beschissen. Daher konnte sie nicht erkennen, wer in dem Auto saß. Doch scheinbar war sie binnen eines Tages schon total konditioniert auf blonde Kerle und rote Autos. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Und das nicht wegen der Anstrengung. Furchtbar. ›Ava, du bist ja noch bekloppter, als du dachtest‹, schalt sie sich selbst. ›Reiß dich endlich zusammen, verdammt nochmal!‹ Leider war es ihr gestern nicht mehr gelungen, einen adäquaten Schlachtplan auszuhecken. Also war für's Erste noch Improvisieren angesagt.
Als Ava an der Schule ankam, war sie völlig durchgefroren und sie hoffte sehr, dass es im Laufe des Tages noch aufklarte. Bibbernd ließ sie ihr Fahrradschloss zuschnappen.
»Du bist ja richtig pünktlich heute«, rief ihr Sonja entgegen. Sie kam aus Richtung des Schülerparkplatzes angeschlendert. Die Freundin war ein paar Monate älter als sie und hatte sich für den frisch erworbenen Führerschein gleich mit einem eigenen Auto belohnt. Zwar war es fraglich, wie lange der klapprige Opel Kadett durchhalten würde, bevor er auseinanderbrach, aber immerhin hatte er es noch durch den TÜV geschafft.
»Ja, bei schlechtem Wetter laufe ich zu Hochform auf«, konterte Ava. »Ey, ich habe echt gedacht, dass ich unterwegs erfriere. Ich bin gerast wie eine Blöde.«
»Eher so, als sei der Teufel persönlich hinter dir her gewesen«, mischte sich eine männliche Stimme lachend ein.
»Guten Morgen, Herr Keller«, flötete Sonja. »Super, dass Sie ein wenig frischen Wind in diesen verstaubten Laden bringen.«
»Gleichfalls einen guten Morgen«, erwiderte er fröhlich und lupfte charmant einen imaginären Hut. »Hallo, Vermummte«, wandte er sich schmunzelnd an Ava.
»Bisher weiß ich echt nicht, was an diesem Morgen gut sein soll«, antwortete sie verdrießlich, während sie sich die Kapuze vom Kopf zog. Doch in ihrem Bauch schlugen die Flatterdinger schon wieder Kapriolen.
»Vielleicht kann das deine Laune ein wenig anheben«, erwiderte Keller und zauberte eine kleine Packung Dominosteine aus der Innentasche seiner Jacke. Beinahe feierlich überreichte er die Süßigkeiten der verdutzten Ava. »Das hast du gestern vergessen. Weißt du noch?«
»Danke«, murmelte Ava. »Das wäre aber nicht nötig gewesen.« Sonja starrte die beiden mit großen Augen an.
»Wir sind uns gestern beim Einkaufen begegnet«, klärte der Lehrer die Situation auf. »Und Ava hatte es so eilig, dass sie glatt ihr Nervenfutter vergessen hat.«
»Herr Keller, Ihr Typ wird verlangt!« Frau Seidel, die junge Referendarin für Latein und Geschichte, stand in der Flügeltür am Haupteingang. Täuschte sich Ava, oder überzog ein dezentes Rosa das porzellanfarbene Puppengesicht? Offensichtlich war sie echt nicht die Einzige, die seit Kellers Auftauchen verrückt spielte. Zugleich beruhigend und beschämend.

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Zartherbe Liebe (Bd 1) - Auf verbotenen Pfaden (LESEPROBE)
RomanceHerbst 1990: Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag verliebt sich Ava Hals über Kopf in den charismatischen Jon. Doch er ist nicht nur fünfzehn Jahre älter, sondern außerdem ihr Deutschlehrer. Eine unmögliche Liebe, die sich dennoch ihren Weg sucht...