Kapitel 2 (September 1990)

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Kurz nach der Unterführung trennten sich ihre Wege. Ralf zweigte winkend in die Schillerstraße ein, wo er mit seinen Eltern und seinem Bruder wohnte. Ava hob ebenfalls die Hand und beschleunigte dann ihr Tempo. Sie hatte noch gute zehn Minuten Weg vor sich. Insgesamt fuhr sie fast vierzig Minuten zum Gymnasium im Nachbarsort. Sie hätte auch die Möglichkeit, die S-Bahn zu benutzen. Aber Ava verspürte keine Lust, sich wie eine Sardine mit unzähligen Kindern und Pendlern in ein enges und stickiges Abteil zu drängen. Den Schulranzen des Fünftklässlers vor ihr im Magen und die Zeitung des Anzugträgers neben ihr im Gesicht. Nein, da lobte sie sich die frische Luft und das Freiheitsgefühl beim Fahrradfahren. Jauchzend jagte sie durch das bunte Laub, das in der Allee mit den Ahornbäumen den Weg bedeckte. Der frühe Frost hatte dazu geführt, dass die Bäume dieses Jahr schon frühzeitig ihre Blätter verloren. Ava liebte den Herbst. Das goldene Licht. Die herrlichen Farben. Die Natur verfügte einfach über den schönsten Malkasten.

Und außerdem gab es endlich wieder Dominosteine und Lebkuchen in den Läden. Was für viele eher ein Ärgernis darstellte, war für Naschkatze Ava der Himmel auf Erden. Sie störte sich nicht daran, dass es bis Weihnachten noch eine Weile hin war. Selbst wenn diese Köstlichkeiten das ganze Jahr über feilgeboten würden, hätte sie nichts dagegen. Bei dem Gedanken an die saftigen Dominosteine lief ihr das Wasser im Mund zusammen und sie entschied sich, noch einen Abstecher in den Supermarkt zu machen, an dem sie gleich vorbeikommen würde.

Kaum hatte sie das kleine Lebensmittelgeschäft betreten, steuerte sie schon zielstrebig auf die Regale mit der Saisonware zu. Sie griff gerade nach den Dominosteinen mit dem Zartbitterüberzug, als hinter ihr eine entfernt vertraute Stimme ertönte:

»Sieh an, so schnell trifft man sich wieder.« Ava hatte das Gefühl, jemand hätte ihr eine heiße Klinge in die Eingeweide gerammt. Und schwindlig war ihr auch. Langsam drehte sie sich um und blickte direkt in die funkelnden Sternchenaugen ihres zukünftigen Deutschlehrers. Ihre Beine waren plötzlich knochenlos und sie befürchtete ernsthaft, jeden Moment umzukippen. Sie hätte sich dafür umbringen können, dass sie so übertrieben reagierte. Aber ihr bescheuerter Körper machte, was er wollte.

»Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte er im Plauderton, während er die Packung mit den Dominosteinen in ihrer Hand studierte. »Ich bin erst letzte Woche hergezogen und noch etwas orientierungslos.« Freundlich lächelte er sie an.

›Mach den Mund auf, Ava‹, versuchte sie, sich innerlich wieder auf Kurs zu bringen. ›Wenn du nicht willst, dass er dich für komplett bekloppt hält, musst du jetzt schleunigst etwas antworten.‹

»Offensichtlich hat es dir schon wieder die Sprache verschlagen«, konstatierte ihr blondes Gegenüber amüsiert. »Am fehlenden Wortschatz kann es ja nicht liegen. Mit deiner Schlagfertigkeit hast du mich vorher glatt ins Schwitzen gebracht. Und glaub mir: Das kommt nicht oft vor.«

»Ja, ich wohne nur zwei Straßen weiter«, erklärte sie ihm lahm. »Und Sie?« Erschrocken bemerkte sie, dass sie die Dominosteine als Antistressball benutzte. Wenn sie weiterhin so fest zudrückte, würde sie die appetitlichen Schokowürfel noch zu Brei verarbeiten. Schnell legte sie die Packung zur Seite.

»Frühlingsstraße«, entgegnete er knapp, aber noch immer lächelnd. Das war direkt um die Ecke. Und Ava beschlichen erste Zweifel im Hinblick auf ihre Vogel-Strauß-Taktik. Es schien unvermeidbar, dass sie sich von nun an häufiger über den Weg liefen.

»Na, wenn Sie einen Fremdenführer brauchen, können Sie gerne auf mich zukommen.« Allmählich regulierte sich ihre Körperchemie wieder. Sie musste nur darauf achten, ihm nicht zu lange in die Augen zu sehen.

»Danke für das Angebot. Komme ich gegebenenfalls gerne drauf zurück.« Obwohl Ava den Blickkontakt mied, bemerkte sie, dass Keller sie eindringlich musterte. Er schien darauf zu warten, dass sie noch etwas erwiderte. Aber er hatte sie doch gar nichts mehr gefragt. Die Stille zwischen ihnen vibrierte vor Anspannung. Oder kam es ihr nur so vor? Verwirrt hob sie den Kopf. Das Erste, was ihr ins Auge stach, war die steile Falte, die sich auf seiner Stirn gebildet hatte. Was war denn nun los? Hatte sie etwas Falsches gesagt? Ihr Blick wanderte über sein schmales Antlitz und die wenigen Spuren, die das Leben in sein noch immer junges Gesicht gezeichnet hatte. Um schließlich doch wieder an seinen berückenden Augen hängen zu bleiben. Doch sie konnte nicht in ihnen lesen. Nicht auf den verborgenen Grund unter diesem tiefen Blau hinabtauchen.

Zartherbe Liebe (Bd 1) - Auf verbotenen Pfaden (LESEPROBE)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt