Kapitel 76 - Alte Wunden

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Ungläubig starrte ich meinen Onkel an, den mehr und mehr die Angst zu fassen schien. Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte. Ich war schockiert. Überwältigt. Verwirrt.

»Du... du nimmst Drogen?«, stammelte ich völlig überfordert.

Mein Onkel stieß einen trostlosen Seufzer aus und setzte sich auf eine der Treppenstufen. Abwesend schüttelte er den Kopf und fuhr sich mehrmals verzweifelt durchs Haar. Er flüsterte unverständliche Wörter und wurde immer unruhiger.

Angespannt stellte ich den Koffer ab. »Onkel... du...«, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie sollte man für so etwas die richtigen Worte finden?

Verbittert sah er zu mir auf. »Jetzt hat es sowieso keinen Sinn mehr zu lügen...«, wisperte er, »Allyson, ich-« Ihm brach das Wort ab. Seine blauen Augen wurden glasig.

Sofort setzte ich mich neben ihn und legte die Hand auf seinen Rücken. »Egal, was es ist...«, redete ich ihm zu, »...ich werde es niemanden sagen! Keiner wird davon erfahren.«

Josh hatte vielleicht Recht. Mein Onkel nahm wirklich Drogen, aber er konnte niemals mein Verfolger sein.

Er blinzelte mehrmals. »Das weiß ich sehr zu schätzen...«, flüsterte er mit zitternden Unterkiefer, »Aber Josh hat mich erwischt, als ich den Koffer entsorgen wollte... er wird die Polizei rufen.«

Ich strich meinem Onkel beruhigend über den Rücken. »Darüber musst du dir keine Sorgen machen. Josh wird kein Wort sagen! Das verspreche ich dir.«

Ich versprach es ihm, weil ich wusste, dass Josh es nicht tun würde. Er hätte längst zur Polizei gehen können, aber er hatte abgewartet. Dafür musste es einen Grund geben.

Mein Onkel sah mich mit aufgelöster Miene an. Er war den Tränen nahe. »Er hätte es tun sollen...«, flüsterte er und erhob sich von seinem Platz.

»Nein, sag sowas nicht.« Ich wollte nicht, dass er sich deshalb Sorgen machte.

Mit dem Rücken zu mir gekehrt ließ er den Kopf sinken. »Doch, Allyson... ich bin ein furchbarer Mensch! Ich habe Dinge getan, die nicht zu verzeihen sind.«

Was sollte das denn jetzt bedeuten?

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. »Was m-meinst du damit?«, fragte ich verunsichert.

»Ich habe dich im Stich gelassen, Allyson...«, Onkel Harry drehte sich zu mir herum. Eine einzelne Träne kullerte seine Wange herunter. »Ich hätte auf dich aufpassen sollen! Collin hätte dich fast umgebracht und ich... ich war nicht für dich da!«, er machte sich Selbstvorwürfe, »Es... es hört sich verrückt an, aber du bist für mich wie eine Tochter! Ich hätte dich beschützen müssen! Du und Max seid die Kinder, die ich nie hatte.«

Ich spürte, wie sich meine Brust zusammenzog. Ich stand auf und umarmte ihn. Ich war jedoch nicht in der Lage, um etwas zu sagen. Ich selbst kämpfte mit den Tränen. Es machte mich fertig zu sehen, wie mein Onkel sich Sorgen um mich machte. Mehr Sorgen als mein Vater sich jemals gemacht hatte. Es tat weh zu wissen, dass mein eigener Vater mich niemals so sehr geliebt hatte.

Ich schluchzte und drückte mich fester an meinen Onkel.

»Allyson...«, wisperte er aufgelöst, »...es tut mir leid.«

Heiße Tränen rannten meine Wangen herunter. Fest grub ich meine Fingernägel in sein Oberteil. »Es muss dir nicht leid tun«, weinte ich, »Du bist kein schlechter Mensch, nur weil du mich nicht beschützen konntest... Du musst dir keine Schuld geben. Max und ich lieben dich.«

Ich spürte, wie Onkel Harry mich fester drückte. Die Umarmung war innig, aber voller Verzweiflung.

Ich presste die Lippen aufeinander. Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gab, der gutmütig, fürsorglich und herzlich war, dann war es Onkel Harry. Ich kannte niemanden, der so war wie er. Ich hatte niemanden so schnell wie ihn ins Herz geschlossen.

Nach einer Ewigkeit löste sich Onkel Harry wieder von mir. »Komm mit... ich muss dir etwas zeigen...«, mit rot unterlaufenen Augen ging er die Treppen zum Dachboden hoch.

Ich folgte ihm tonlos.

Hinter ihm betrat ich die heruntergekommene Etage voller Möbel und Antiquitäten.

Onkel Harry bückte sich und lockerte eine der Holzdielen. Er schob sie zur Seite. Er steckte seine Hand in die Vertiefung und holte einen Schuhkarton hervor.

Ich weitete die Augen. Der Karton, nach dem ich gesucht hatte!

Onkel Harry drückte ihn mir in die Hand. Unsicher sah er mich an. »D-das ist einer der Gründe, warum ich... abhängig geworden bin...«, seine Stimme versagte.

Ich nahm den Karton an mich und öffnete ihn mit zitternden Händen.

Zu Gesicht bekam ich mehrere Zeitungsartikel. Aber da war noch etwas Anderes. Fotos.

Ich nahm eines der Bilder in die Hand. Eine hübsche Frau mit blonden Locken grinste mich an. Josie. Onkel Harrys Ex-Frau. Die Artikel handelten über Scheidungen. Es waren Berichte darüber, wie man damit zurecht finden sollte.

»Ich wusste, dass Drogen keine Lösung sind...«, flüsterte mein Onkel niedergeschlagen, »...Aber der Schmerz hat mich krank gemacht.«

Er strich sich mit den Fingern über die Augen. »Deshalb bin ich einmal hier oben so ausgerastet... es macht mich immer wieder fertig.« Seine Augen füllten sich erneut mit Tränen.

Zehn Jahre. Zehn Jahre war die Scheidung her und Onkel Harry liebte Josie immer noch.

* * *

Lange lag ich in meinem Bett und dachte nach. Über Joshs Worte. Über meinen Onkel. Über meinen Verfolger.

Meine Gedanken schienen sich in einem endlosen Zirkel im Kreis zu drehen. Immer wieder tauchten Bilder in meinen Kopf auf, immer wieder hinterfragte ich die Realität.

Ich starrte auf meine Zimmertür, die einen Spalt offen stand. Aus dem Nebenzimmer nahm ich ein leises Wimmern wahr. Ich hatte Onkel Harry heute zum ersten Mal Weinen sehen. Das waren also die Dinge, die ihn zu Boden brachten. Eine unerwiderte Liebe.

Ich hätte meinem Onkel den Koffer nicht zeigen sollen. Ich hatte ihn gebrochen. Verletzt. Erinnert.

Ich fühlte mich grausam. Aber irgendwie war ich auch wütend auf Josh. Wegen ihm war das alles passiert! Immer wieder öffnete er alte Wunden und holte unsere bittere Vergangenheit an die Oberfläche. Immer wieder.

Mit den Drogen hatte er zwar Recht gehabt, aber mein Onkel war nicht mein Verfolger. Er liebte Max. Er liebte mich.

Onkel Harry konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Da war ich mir sicher. Wirklich sicher. Klar, Collin hätte ich auch nie verdächtigt, aber bei meinem Onkel war das etwas Anderes. Genauso wie bei meiner Mutter. Ich wusste, dass sie unschuldig war, obwohl ich es nicht wissen konnte.

Es war ein Widerspruch in sich selbst. Den musste man nicht verstehen. Nur ich musste das.

Josh könnte ihn niemals verstehen. Er wusste nicht einmal, was das zwischen meiner Mutter und mir war. Zwischen meinem Onkel und mir. Liebe und Vertrauen waren für ihn Fremdwörter - nein, sogar eine ganz andere Sprache.

Ich stand auf und setzte mich an den Schreibtisch, was ich in letzter Zeit öfters tat, wenn ich Nachts aufwachte. Draußen funkelten die Sterne. Auf den ersten Blick sah man nur ein paar. Aber wenn man den Nachthimmel genauer betrachtete, dann wurden es immer mehr.

Genauso war es mit den Lügen. Auf den ersten Blick sah man auch nur ein paar. Im Laufe der Zeit offenbarten sich die restlichen.

Der entscheidende Unterschied zu den Sternen war, dass Lügen hässlich waren.

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