Dritter

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Name: Selena Rain
Blutstatus: Halbblut (Muggel-Vater verstorben; Stiefvater Zauberer)
Haus: Slytherin
Jahrgang: ein Jahr über Harry, Ron, Hermine

...Und da wäre deine Story:

Sechstes Schuljahr, Harrys Fünftes:
Ein neues Schuljahr begann. Für mich war es das Vorletzte – bald sollte tatsächlich fertig sein, mit der Ausbildung an diesem Schloss. Ich sehnte diesen Zeitpunkt herbei. Ich war Einzelgängerin. Die Tatsache, mit vier anderen – mitunter sehr zickigen – Mädchen in einem Schlafraum zu wohnen und praktisch den ganzen Tag an Gemeinschaft gefesselt zu sein, war bedrückend. Immerhin sechs Jahre hatte ich es ausgehalten, aber ich spürte zunehmend, dass dieses Leben nichts für mich war – und meine Umwelt bekam es zu spüren. Ich galt hier als „Snapes Frau“: ebenso kühl und abweisend, gelegentlich ebenso kaltblütig, jedoch immer beherrscht. Das machte mein Leben hier aus. Meine Emotionalität hinter einem Deckmantel eisiger Kälte zu verdecken – das war meine Art, mit den Menschen klarzukommen und es war meine Art, den Tod meines Vaters zu verdauen, den offenbar jeder herbeigesehnt hatte, sogar meine Mutter. Mein Nachname war das Einzige, was ich von meinem Vater behalten hatte. Der Rest verschwamm langsam in den Erinnerungen. Meine Mutter hatte, nachdem sie ihren neuen Mann kennengelernt hatte, jede kleinste Kleinigkeit von ihm verschwinden lassen. Nicht einmal ein Foto von ihm hatte sie noch. Und so hielt mich auch jeder für das Kind ihres neuen Mannes – selbstverständlich Zauberer; mein Vater jedoch war Muggel gewesen.
Ich sinnierte mal wieder vor mich hin… Mitten im Unterricht, versteht sich. Aber Snape nahm mir das nicht übel. Ich hatte die Vermutung, dass er mich irgendwo verstand – so, wie ich ihn.
Mit den Lehrern der Schule kam ich – ganz im Gegensatz zu den Schülern – recht gut klar, da ich im Gegensatz zu einigen anderen Slytherins nie beleidigend auftrat. Nur Umbridge, dieser (Alp-)Traum in Pink – und genau da stimmte ich mit meinen Mitschülern überein – war mir ein Gräuel.

„Selena?“ Es war Adrian, Adrian Pucey, einer meiner Mitschüler, „Würdest du vielleicht mit mir nach Hogsmead gehen?“
Ein Date. Das 6234. (gut, vielleicht waren es auch zwei oder drei weniger). Und bei jedem Einzelnen hatte ich Adrian abgesagt. Konnte er sich nicht in ein anderes Mädchen verlieben? Ich hatte absolut keine Lust auf seine Anhänglichkeiten. Alles in Allem war er ja kein schlechter Kerl – im Gegenteil, er war sogar so etwas wie ein „guter Freund“. Aber seit er seine liebliche Zuneigung zu mir entdeckt hatte, ging er mir zusehends auf die Nerven.
„Nein, Adrian, das werde ich nicht – genau wie bei deinen letzten 6233 Nachfragen. Vielleicht wärst du so freundlich und merkst es dir? Das würde mir einige Antworten sparen, wenn du verstehst.“
Ich ging. Es war nicht gut, ihn so zu verletzen – ich wollte das nicht. Aber ich war nun einmal die Eisprinzessin von Slytherin; Mitgefühl legte ich selten an den Tag.
Er lief mir nach. Ich drehte mich rasch zu ihm um.
„Adrian, bitte! Ich habe weder Interesse an einem Date, noch an dir selbst. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du dir das merken könntest!“
„Wowhow. Unser Papst Adrian hat der Eisprinzessin mal wieder ein Date angeboten. Das wievielte war es noch gleich, George?“ Fred. Fred Weasley. Nicht nur ein Gryffindor, sondern auch noch ein Weasley – darüber hinaus noch ein Weasley-Zwilling. Ein Weasley-Zwilling, der sich in Dinge einmischte, die ihn absolut gar nichts angingen.
„Weasley Nr. 4, tu mir den Gefallen und begib dich auf Gehirnsuche. Ich habe im Moment keinen Bedarf an deinen Albernheiten. Wenn ihr mich dann bitte entschuldigen würdet?“
Noch bevor irgendwer etwas sagen konnte, verschwand ich um die nächste Ecke.

Es stand ein Quidditch-Trainingsspiel an. Ich war Ersatztreiberin und für mich war Quidditch die beste Gelegenheit, mich auszutoben und all die Wut, die sich über die Tage anstaute, rauszulassen. In der Zwischenzeit hielt ich mich mit allerlei Büchern über Wasser – das Hobby der Einzelgänger, denn lesen kann man nur allein. Aber auf Dauer in eine fremde Welt flüchten, half nichts, wenn einen jeden Morgen der Alltag wieder einholte.
Ich war völlig ausgepowert vom Training auf dem Rückweg in die Kerker, zu den Schlafsälen, als ich auf einem der Korridore einen weinenden Erstklässler auftrieb. Für gewöhnlich ignorierte ich solche Vorkommnisse erfolgreich. Vermutlich hatte der Kleine einfach nur Heimweh oder heute keine Eule seiner Eltern bekommen oder was wusste Merlin! Aber als ich Blut von seiner Hand tropfen sah, ging alle Vernunft mit mir durch. Ich liebte Kinder – eines so leiden zu sehen, drückte mir die Luft ab. Da es schon recht spät war und dieser Teil des Schlosses generell nicht der belebteste, musste ich auch nicht damit rechnen, von irgendeinem Neider aufgespürt zu werden.
„Hey, was ist denn mit dir los?“, fragte ich den Kleinen behutsam.
Er erschrak, als er in mein Gesicht blickte. Offenbar hatte man ihn schon vor der „Eisprinzessin“ gewarnt.
„I-Ich hab… Ich war… P-Professor Umbridge hat… S-sie…“ Der Kleine war völlig aufgelöst. Ich hockte mich zu ihm hinunter auf den Boden.
„Professor Umbridge, die Lehrerin? Sie hat dir das angetan?“, ich deutete auf den blutenden Handrücken des Kleinen.
Es war bereits gemeinhin bekannt, dass die neue Lehrkraft und ihre Methoden alles andere als „rosarot“ waren – obwohl „rot“ wie „blutrot“ es wohl doch recht gut traf. Dennoch saß der Schock tief. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass man den Erstklässlern eine ernsthafte Verletzung zufügen würde.
Der kleine Erstklässler nickte nur.
„Du musst in den Krankenflügel. Deine Hand sieht gar nicht gut aus.“ Ich riss etwas von meinem bedauerlicherweise nicht sonderlich sauberen Umhang ab und versuchte die Blutung durch straffes Abbinden zu stoppen.
„Mir ist schwindlig…“, brachte der Junge noch hervor, bevor er endgültig abkippte. Glücklicherweise hatte irgendetwas in meinem Gehirn sich bereits darauf eingestellt und ich fing seinen Kopf behutsam auf.
„Wie schaffe ich ihn nur von hier fort?“
„Am besten, indem du jemanden um Hilfe bittest.“
Ich erschrak halb zu Tode. Ich war so darauf konzentriert, den Erstklässler zu versorgen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie einer der Zwillinge den Korridor betreten hatte.
„Fred oder George?“
„George.“
Das geringere Übel, schoss es mir durch den Kopf. Bisher hatte ich George für den Besonneneren gehalten – wenn bei den Zwillingen so etwas wie „Besonnenheit“ überhaupt existieren sollte.
Seinen Einwand übergehend versuchte ich – vergeblich – den Jungen hochzuheben. Ich bin leider weder die Kräftigste, noch die Größte – im Gegenteil, ich bin recht klein und zierlich. Bis in den Krankenflügel würde ich es mit dieser Last nicht schaffen und ich wollte es auf gar keinen Fall riskieren, dem Jungen noch mehr Leid zuzufügen. Erschwerend kam hinzu, dass mich auf dem Weg durchs halbe Schloss garantiert jemand sehen würde.
„Würdest du ihn bitte in den Krankenflügel tragen? Ich wäre dir dankbar.“
„So höflich?“
„Ich bin immer höflich.“, entgegnete ich – in mir brodelte es. Seine Ironie konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen.
„Gib her, ich nehm ihn schon.“ Er nahm mir den Jungen ab und ging. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und fragte: „Sag mal, willst du nicht mitkommen?“
„Nein, besser nicht.“, entgegnete ich und trat schleunigst den Rückweg an – keine Lust auf weitere Fragen.
„Dann nicht.“, hörte ich ihn noch sagen.

Der Schultag war anstrengend und lang gewesen – dank Snape, McGonagall und Trelawney; wie hatte ich auf die Idee kommen können, Wahrsagen als Wahlfach zu nehmen? Der blödeste Gedanke überhaupt! Die ständige Heuchlerei von irgendwelchen noch nicht geschehenen aber sicher bald eintretenden Zuständen, Vorkommnissen und deren entsprechende Erklärungen waren zwar sehr lustig, allerdings wirklich nur für die ersten zwei Unterrichtsstunden unterhaltsam. Danach war es die reinste Qual; zugegebenermaßen war ich weder gut im Ausreden ausdenken, noch im Lügen oder Lügen einfallen lassen.
Ich suchte Ruhe in der Eulerei. Es kam nicht so oft vor, dass Schüler sich hier länger aufhielten. Meist suchten sie nur kurz ihre Eule, verschickten ihre Nachricht und verschwanden wieder. Auf die schwarzhaarige Slytherin in der linken, hinteren Ecke achtete niemand. Und sollte mich doch einmal jemand bemerkt haben, war es ratsam, mir aus dem Wege zu gehen.
Ich selbst hatte ebenfalls eine kleine Eule, die ich Ylopa genannt hatte. Es war eine Zwergohreule. Eigentlich hatte ich damals nicht vorgehabt, mir überhaupt eine Eule zu kaufen, aber die kleine, freche Eule war einfach auf meine Schulter geflogen und angefangen, mir am Ohr zu knabbern. Und diese Kühnheit hatte ich belohnen müssen und sie entgegen aller Proteste meiner Mutter einfach mitgenommen.
„Na, mal wieder auf der Suche nach Einsamkeit?“
„George … pack dich!“
„Ich bin Fred.“
„Bist du nicht.“
„Woher zum Teufel weißt du das?“
„Fred hätte es anders formuliert.“
„Ach ja?“
„Nein.“, sagte ich trocken und ging.
George Weasley kam mit hinterher.
„George, würdest du dir bitte eine andere Freizeitbeschäftigung suchen, als mir auf die Nerven zu gehen?“
„Nein.“
„Also gut: was willst du?“
„Nichts.“
„Ah, aufschlussreich. Warum bist du dann hier?“
„Einfach so.“
„Noch besser.“
Ich ging weiter und ignorierte den mir penetrant folgenden Schatten. Schließlich stehen wir am Rande des Verbotenen Waldes und ich zweifelte, ob ich die nächsten Schritte tatsächlich gehen sollte. Normalerweise kümmerten Regeln mich nicht besonders – allerdings hatte Dumbledore vermutlich einen sehr guten Grund, diese Regel Jahr für Jahr allen Schülern einzubläuen.
„Was ist? Traust du dich nicht?“ Ich hörte Georges Grinsen in seiner Stimme.
Kommentarlos ging ich ins Dunkle des Waldes. Vermutlich würde ich ihn hier auch nicht abschütteln können – es ging das Gerücht, dass die Zwillinge beinahe regelmäßig im Verbotenen Wald aufgetrieben wurden (und deswegen nicht selten Strafarbeiten schrieben). Aber da ich mit ihm als Anhängsel nicht unbedingt durchs halbe Schloss gehen wollte, war der Verbotene Wald vielleicht doch eine gute Variante.
„Du tust wirklich alles, um dein Ansehen als ‚Eisprinzessin von Slytherin‘ zu erfüllen, oder? Draco müsste ja praktisch dein bester Freund sein.“
„Draco ist jünger als ich.“
„Und?“
„Was soll ich mit ihm anfangen?“
„Ohhh, hier steht jemand auf Ältere.“
„Sonst noch Fragen? Sollte dein Bedarf irgendwann gedeckt sein, könntest du mich ja eventuell in Ruhe lassen.“
„Ich lasse dich doch in Ruhe. Oder habe ich dir jemals Kotzpastillen untergeschoben? Oder sonstige Kleinigkeiten?“
„Sehr lieb von dir, George.“
„Was?“
Ich verdrehte die Augen, „Dass du das nicht getan hast.“
„Ah. Ja, in der Tat. Eigentlich bin ich sehr nett.“
Ich schwieg. Langsam aber sicher verlor sich auch das letzte einstrahlende Sonnenlicht und ich beschloss, zumindest in der Nähe des Waldrandes zu bleiben. – Keine Lust auf Konfrontation mit Zentauren, Riesenspinnen oder sonstigem Getier, das hier hausen sollte.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“, eröffnete mir George.
„So? Welche denn?“
„Ob du wirklich alles für dein Ansehen tust.“
„Welches Ansehen soll ich deiner Meinung nach haben?“
„Je nach dem: Du bist unantastbar, kalt, beherrscht… Bis vor Kurzem hätte ich gedacht, du wärst tatsächlich eine dieser Snape-Slytherins, die in ihrem Herzen nichts anderes, als einen eiskalten Stein liegen haben.“
„Aha.“
„Das war’s?“
Ich blieb stehen und wandte mich ihm zu. „Was willst du hören, George? Du gehst mir auf die Nerven! Dann kannst du nicht von mir erwarten, eine sinnvolle Antwort zu bekommen.“
„Ich möchte aber.“
„Ja, die Menschen wollen vieles…“
„Oh, jetzt wird sie auch noch philosophisch…“
„GEORGE! Würdest du mich bitte in meinem Ansehen, meiner Kälte, meiner Beherrschtheit meinem was-weiß-ich schwimmen lassen und deinen eigenen Zielen nachgehen? Danke!“ Ich wandte mich wieder von ihm ab und ging weiter.
Er lief mir hinterher. „Mein Ziel für heute ist es, herauszufinden, was du wirklich bist.“
„Jetzt wirst du philosophisch!“
Er ergriff meinen Arm – eine völlig ungewohnte Geste, man pflegte es, mich nicht anzufassen – und drehte mich in einer rohen Geste zu sich herum. „Weich mir nicht aus, Selena!“ Er blickte mir fest in die Augen und ich musste zugeben, von dem sonst chronischen lustig-fröhlichen George völlig überrascht worden zu sein.
„Lass mich los, George! Was fällt dir eigentlich ein?“
Er blickte auf seine Hand, die meinen Arm hielt, als müsse er sich persönlich davon überzeugen, dass er mich tatsächlich festhielt und ließ schließlich in einer schnellen Bewegung los.
„Entschuldige.“, murmelte er.
„Schon okay. Sofern du mich jetzt in Ruhe lassen würdest.“
„Eine Frage noch.“
Ich legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. „Okay, eine Frage. Aber danach verschwindest du.“
„Gut: Warum hast du dem Erstklässler geholfen?“
„Weil es ihm nicht gutging.“
„Aber… Du bist doch sonst nicht daran interessiert, Leuten, denen es ‚nicht gut geht‘ zu helfen?“
„George. EINE Frage.“ Ich drehte mich um und ging ins Schloss – sollten die anderen denken, was sie wollten… Allmählich ging er mir mit den Fragen wirklich an die Kehle.

Ich sollte in den kommenden Tagen feststellen, dass es tatsächlich Georges Aufgabe zu sein schien, meine Nerven gründlichst auf eine harte Probe zu stellen. Es wurde schon beinahe zu einer „Verabredung“ im Dunklen Wald zu verschwinden. Und immer wieder kamen dieselben Fragen: Warum hast du ihm geholfen, warum bist du so kalt, warum, warum, warum.
„Und warum, George, interessiert dich das alles so sehr? Du bist doch sonst nicht so hinter dem Wissen her! Zumindest sagen deine Noten etwas in der Richtung…“
„Woher kennst du meine Noten?“
„Seit wann bist du es, der hier Fragen nicht beantwortet?“
„Seitdem du das auch nicht tust.“
Es ging ständig hin und her und wir schienen beinahe Gefallen daran zu finden, dem anderen so wenig wie möglich über sich selbst zu erzählen.

Eines Tages, es war bereits Frühling, ging jedoch alles schief:
„George, zum 129345. Mal: Du – gehst – mir – auf – die – Neven! Lass – mi…“ Mein Blick fiel auf ein großes, ekelhaftes, widerwärtiges, mehräugiges, mit Zangen versehenes, achtbeiniges Wesen. Eine Spinne. Ich hasse Spinnen – und ich habe Angst vor ihnen, unglaubliche Angst. Wie gelähmt stand ich da und rührte mich nicht vom Fleck.
„Äh… Selena? Alles in Ordnung?“ Würde mein Gehirn nicht damit beschäftigt sein, sämtliche Hormone zwischen Adrenalin und Kortison auszuschütten – eine logische Reaktion bei Angst, erklärte mir vor meiner Hogwarts-Schulzeit ein übereifriger Muggel – hätte ich eventuell auch zur Kenntnis genommen, das Georges zu einem nicht geringen Teil sehr besorgt wirkte.
„Spiinneee!“, schrie ich und fühlte mich in einer Ohnmacht nahe. Die ist so groß! Und ekelhaft, und ieeehhhhh!
George drehte sich um und guckte mit großen Augen auf dieses Wesen.
„Sehr interessant. Harry erwähnte mal im dritten oder vierten Schuljahr irgendwas von Spinnen.“
„Geeeeorge, mach sie bitte weg!“ Ich versteckte mich hinter seinem breiten Rücken. Da ich glücklicherweise zu klein war, um über seine Schulter hinwegzublicken, konnte ich nicht sehen, was von statten ging. Allerdings zeugten einige Geräusche davon, dass die Spinne inzwischen beschlossen hat, ihr Mittagsmahl zu sich zu nehmen. Ich hörte lautes Rascheln und spürte die Vibration des Erdbodens. George stellte offensichtlich fest, dass dieses achtbeinige Wesen nicht nur ‚interessant‘ war, sondern durchaus zur Gefahr werden konnte. Dann ging es schnell: George kramte herum, brabbelte vor sich hin, ich vernahm ein Zischen und einen lauten Plauz.
„Ist sie weg?“, fragte ich vorsichtig in die Stille hinein.
„Eher … leblos. Du darfst mich jetzt gern loslassen.“
Erschrocken stellte ich fest, dass ich mich an George festgekrallt hatte. Sofort sprang ich von ihm weg und blickte mit großen Augen zwischen ihm und dem 0Spinnengebilde, was da vor ihm lag, hin und her.
„Danke.“, murmelte ich.
„Gern geschehen, du Angsthase.“ Er grinste übers ganze Gesicht, kam auf mich zu und noch eh ich mich versah, hatte er seine Arme um mich gelegt. Was war denn jetzt wieder passiert? Nein, nein, das darf nicht passieren! Ich zappelte und versuchte, mich von ihm zu lösen, ohne ihm ernsthaft wehzutun. Aber er hielt mich nur fester. Schließlich unterließ ich all den Widerstand und legte meinerseits meine Arme um ihn.
Schließlich ließ er mich los. „Das war für deine Spinnenumklammerung.“, grinste er, nahm meinen Kopf in seine Hände und gab mir einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn.
Ich stand wie versteinert da und sagte nichts.
„Komm, wir müssen hier heraus, bevor ihre Kollegen kommen.“, er deutete mit dem Daumen auf die Spinne, nahm mich bei der Hand und lief in Richtung Waldrand. Ich ging schweigend neben ihm her und versuchte zwanghaft, mich unter Kontrolle zu bringen – was war gerade passiert?
„George… Ich… Das…“, ich war durcheinander. Selbst eine simple Aneinanderreihung von Wörtern, die Sinn ergaben, war offenbar nicht möglich.
„Ist schon gut.“ Er umarmte mich noch einmals.
„Sag das bitte niemandem.“, flüsterte ich schließlich und rannte zum Schloss.

Am nächsten Tag verließ ich mit den Slytherins das Klassenzimmer, in dem wir bis gerade eben noch Zaubertränke-Unterricht hatten. Wir bogen gerade um die Ecke auf dem Weg zu den Treppen, als uns George mit entschlossener Mine entgegenkam.
„Selena, k…“
„Konjunktivitis!“, rief ich und zielte auf seine Augen.
Alles um mich herum lachte, als George sich weinend die Augen rieb. Ich fühlte mich scheußlich. Aber etwas anderes war mir nicht übriggeblieben und der Bindehautentzündungs-Spruch war mir spontan in den Sinn gekommen; mein Stiefvater arbeitete mit Drachen und benutzt ihn häufig, weil er lediglich außer Gefecht setzt, aber nicht schädigt. Niemand durfte erfahren, dass George und ich miteinander redeten, geschweige denn, dass wir uns umarmt hatten, dass er und ich …
„Das war super, Selena!“, rief Pansy Parkinson und klopfte mir auf die Schulter.
„Fass mich nicht an!“, schrie ich.
Erschrocken wich sie zurück. Ich wandte mich an einen der Ravenclaws, mit denen wir gemeinsam Zaubertränke hatten.
„Würdest du ihn bitte in den Krankenflügel bringen? Ihm scheint es nicht ganz wohl zu sein.“, ich setzte ein arrogantes Grinsen auf und verschwand so schnell ich konnte.
Der Raum der Wünsche war ein guter Ort zum Ausweinen, stellte ich fest. Ich hatte mich in ein riesiges Himmelbett voller Kuschelkissen gelegt, und dazu noch einen großen, braunen Teddy herbeigewünscht, der genauso aussah, wie der, den mir mein Vater einst geschenkt hatte – nur viel größer. Tief im Inneren war ich wohl doch nur ein kleines Mädchen… Jedenfalls fühlte ich mich in diesem Moment exakt so: wie ein kleines, hilfloses Mädchen. Allerdings hatte dieses Mädchen verdammten Bockmist gebaut! Erst verliebe ich mich hals über Kopf, das auch noch in einen Gryffindor, in einen Weasley, in einen Weasley-Zwilling! Merke es nicht einmal, dann hau ich ihm vor versammelter Mannschaft noch eine Bindehautentzündung um die Ohren und bin nicht mal stolz darauf! Zum Heulen!
Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging. Ich hockte einfach nur da und weinte mir die Augen aus dem Kopf. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich vermisste ihn so sehr, seine Wärme und seinen Geruch, die Kraft seiner Arme und seinen tiefen Blick, seinen Humor und sogar seine Neckereien. Dabei war doch bis gestern alles gut. Alles war schön brav unter Kontrolle, alle Gefühle in einem Eisschrank, so wie immer. Und jetzt sollte das nicht mehr so sein? Nur wegen irgendeinem Menschen, der meinen Eisschrank abgetaut hat?
„Lena?“
Ich erschrak. Es gab genau eine Person auf dieser Welt, die mich jemals „Lena“ genannt hatte: und das war mein Vater. Aber der war nicht mehr da.
„Hmmmm?“, schniefte ich und guckte mich um.
Eine Hand schob den Vorhang von dem Himmelbett beiseite und ein Mensch schlüpfte hindurch.
„Wie hast du mich gefunden?“, frage ich. Was Dämlicheres wäre wohl keinem eingefallen.
„Weiß nicht. Ich war auf dem Weg zum Krankenflügel zum Schlafsaal, als neben mir eine Tür auftauchte. Da bin ich doch dann glatt hinein.“, er grinste. Das sah sogar mit so roten Augen, wie er sie durch mich bekommen hatte, noch süß aus.
George setzte sich neben mich auf das große Bett.
„Es tut mir leid.“, piepste ich, „Ich wollte einfach nicht, dass du… dass ich… dass…“, stotterte ich herum.
„Schon gut.“, sagte er.
Ich ließ den Teddy plötzlich los und schlang meine Arme um ihn.
Ich löste mich von ihm. „Nein, gar nichts ist gut! Es könnte kaum schlimmer sein! Erst verliebe ich mich einfach mal eben so und das obwohl wir doch eigentlich einfach nur geredet haben… oder? Und dann … dann die Spinne und deine Umarmung. Du sprichst mich vor versammelter Mannschaft an und mir fällt nichts Besseres ein, als dieser blöde Bindehautentzündungs-Spruch. Ich bin ein kategorischer Volltrottel!“ Ich schob meine Unterlippe zu einem Schmollmund und ließ die Tränen, die wieder in mir aufstiegen, einfach kullern. Keine Kraft, um mich noch gegen irgendetwas zu wehren.
Er hob mein Kinn seiner Hand ein Stück an und küsste jede einzelne meiner Tränen weg, so behutsam, als könne mein Gesicht unter seinen Küssen wie Porzellan zerbrechen. Ich schlang meine Arme um seinen Hals, schloss meine Augen und küsste ihn lange auf den Mund. Vorsichtig bettete er mich zwischen all den Kissen auf die Matratze. Seine Hand schob die Lagen von Stoff über meinem Bauch beiseite und er liebkoste jeden einzelnen Quadratzentimeter meiner Haut. Schließlich zog er mir die Oberteile meiner Schuluniform komplett aus und ich schob ihm den Pullover über den Kopf. Dann hielt er inne.
„Lena?“
„Ja?“
„Willst du… Ich meine, willst du das wirklich? Jetzt? Ich möchte nichts überstürzen. Ich liebe dich – egal, ob du dir viel Zeit lassen willst oder mich am liebsten gleich verschlingen würdest.“ Das übliche Grinsen schlich einen Moment lang über sein Gesicht, bevor es wieder ernst wurde.
Ich küsste ihn auf den Mund und sagte: „Ja, ich will es – jetzt. Und nicht irgendwann, wenn ich es mir anders überlege, wenn mein Eisschrank wieder einfriert, wenn meine Mutter mit vorwurfsvollem Blick vor mir steht oder wenn Pansy Parkinson mit ihren Wurstfingern auf mich zeigt.“
„Gut.“, flüsterte er mir ins Ohr und fuhr dort fort, wo er gerade eben noch gestockt hatte. Unsere Kleidung landete irgendwo neben dem Bett, wofür sich keiner von uns beiden näher interessierte. Wir versanken völlig in der Anwesenheit des anderen.
Er war so behutsam und sanft, so vorsichtig, als würde ich bei einer einzigen zu heftigen Bewegung in tausend Scherben auseinanderfallen und trotzdem spürte ich jede seiner Bewegung, fühlte jeden einzelnen seiner vorsichtigen Stöße, jeden Hauch eines Kusses.

Wir trafen uns oft im Raum der Wünsche oder auch im Dunklen Wald – nachdem George mich davon überzeugt hat, dass dort nicht tausende von Spinnen nur darauf warteten, mich zu fressen. Eines Tages eröffnete er mir, dass er mit Fred während der ZAGs die Kurve kratzen würde, mit Getöse und Radau. Ich war von dieser Idee nicht sonderlich begeistert – ich würde ihn nicht mehr jeden Tag sehen können, er würde schrecklich fehlen. Aber er versprach mir, Wege zu finden, dass wir uns wenigstens ab und zu sehen konnten.
Aber nach den Sommerferien – die ich fast ausschließlich bei ihm verbracht hatte – sahen wir uns trotzdem kaum noch. Ich verpuppte mich noch stärker in die Rolle der Eisprinzessin und musste nicht einmal viel vorspielen: Ich hatte das Gefühl, ein Teil meines Herzens würde ständig fehlen, als wäre die Liebe einfach weg und hätte mich in diesem kalten Schloss zurückgelassen.
Irgendwie überlebte ich das sechste Schuljahr und in den Ferien lud mich George zu Bill Weasley und Fleur Delacours Hochzeit ein, worüber ich mich sehr freute – ich ging davon aus, dass mich das ablenken würde, zumal ich ein Königreich fürs Georges Gesellschaft hergegeben hätte. Allerdings war meine Mutter davon ganz und gar nicht begeistert, sie zwang mich geradezu Zuhause zu bleiben. Also musste ich schweren Herzens absagen… Dann folgte das Siebte, vollgepackt mit Entscheidungen: Ich als „eingefleischte Slytherin“ hätte mich Voldemort direkt anschließen können – das lag mir allerdings sehr fern, ich wusste, was es bedeutete, Menschen zu verlieren, ich wollte anderen nicht dasselbe antun. Hinzu kam, dass ich dann noch weiter von George entfernt sein würde. Also blieb ich auf dem Schloss, als Slytherin war das nicht einmal mit sonderlich großen Veränderungen verbunden. Dann jedoch kündigte sich die Schlacht um Hogwarts an und ich stand genau zwischen den Fronten. Das was meiner Ansicht nach am klügsten schien, war, einfach zu verschwinden – nicht sonderlich klug, alles andere als mutig, aber wen kümmerte das? Mich jedenfalls nicht. Also versteckte ich mich in einer der zahlreichen Nischen und wartete einfach – ich wusste nicht genau, worauf. Vermutlich einfach nur darauf, dass alles vorbei war. Ich hatte keine Ahnung, wie es danach weitergehen sollte. Die Chancen rechnete ich mir jedenfalls nicht sonderlich gut aus: Wer immer auch siegen würde, auf beiden Seiten stünde ich nicht sonderlich hoch im Kurs, nahm ich an. Hinzu kam, dass es für mich und George kaum eine Chance gab. Ich wusste nicht einmal, ob er mich nach all der langen Zeit, in der wir uns kaum gesehen hatten, überhaupt noch wollte. Vielleicht hatte er auch irgendwo eine hübsche Zauberin aufgetrieben, die ihm viel besser gefiel…? Ich zerbrach mir in dieser Nische den Kopf und über alles Mögliche und Erdenkliche. – Bis es mir fast den Kopf zerbrochen hätte, als das Mauerwerk des alten Schlosses erzitterte, Steine und ganze Felsbrocken von der Decke kamen. Kreischend rannte ich aus meinem Versteck und sah um mich herum das Resultat dieses Krieges: Ein völlig zerstörtes Schloss, hier und da reglose Menschen, die am Boden lagen; ein einziges Bild des Grauens. Vorsichtig wagte ich mich von einem Raum zum Nächsten, immer darauf gefasst, irgendwo auf irgendwelche Menschen zu stoßen, die eventuell das Bedürfnis hatten, mich genauso umzulegen, wie diejenigen, die bereits am Boden lagen. Da ich mich nicht einmal einer Seite zugehörig fühlte, stand ich praktisch allein gegen den Rest. Das hatte immerhin den Vorteil, dass ich nicht darauf achten musste, eventuell den Falschen zu erwischen.
Der erste Angreifer ließ auch gar nicht lang auf sich warten. Ich bog um eine Ecke und wäre beinahe mit ihm zusammengeprallt: ein großer, hagerer Mann, dessen schwarze Haare bereist mit grauen Strähnen durchzogen waren. Ich stand wie erstarrt da, bis mich sein schonungsloser Angriff aus dem Tran riss. Glücklicherweise stand er offenbar noch zu nah an mir dran, als dass er hätte ordentlich zielen können. Mit einem Satz sprang ich von ihm weg und zählte nacheinander alle möglichen Defensiv-Sprüche auf, die mir so einfielen – völlig unabhängig davon, ob er nun überhaupt angegriffen hatte oder nicht. Schließlich fasste ich mich, straffte meine Schultern und rief mir alle möglichen Zaubertechniken in Erinnerung. Eigentlich war ich gar nicht so eine schlechte Schülerin in VgddK gewesen – nur war ich häufig einfach zu blöd, daran zu denken, was ich eigentlich alles konnte, ganz typisch ich. Allerdings ließ mein gewisser Hang zur Gefühlskälte nicht lang auf sich warten und ich donnerte mit einem Spruch nach dem anderen auf mein Gegenüber ein – sodass es nun an ihm war, sich zu verteidigen. Schließlich hatte ein gezielter Stupor-Fluch ihn vorerst außer Gefecht gesetzt. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob das reichen würde… Ich wandte den Vergessenszauber an und hoffte, dass dieser Jemand niemand von der guten Seite war – denn sonst hätte ich womöglich doch einen ehrlichen Zauberer erwischt. Mein Gewissen beruhigte ich jedoch damit, dass ich ihn ja gar nicht kannte – was ging es also mich an, wer das da war? Schließlich konnte man auch beinahe jeden Zauber rückgängig machen, wenn es darauf ankam…
Ich schüttelte den Kopf, als könne ich alle Zweifel durch diese Bewegung aus meinem Kopf verbannen, und stolperte weiter durch die vom Kampf gezeichneten Räume des Schlosses. Bald schon hörte ich Stimmengemurmel und ging davon aus, auf eine Art „Lager“ getroffen zu sein. Vorsichtig spähte ich um die Ecke. Ich sah einige Lehrer, unter anderem Mdm. Pomfrey, die eifrig zwischen einigen am Boden Aufgebahrten oder am Rande Sitzenden, von Freunden Gestützten hin- und herlief. Ich überlegte kurz und entschloss mich schließlich dazu, ihr unter die Arme zu greifen. Vielleicht konnte sie meine Hilfe ja irgendwo gebrauchen – und ich hielt mich aus diesem Kampfgetümmel heraus. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass gleich fünf Schüler gleichzeitig auf mich zusprangen und nicht den Eindruck machten, als würden sie mir freundlich guten Tag sagen wollen.
„Lasst sie. Sie ist für die Guten – auch, wenn sie es vielleicht noch nicht weiß.“ Diese Stimme klang benebelt, beinahe verstümmelt von Traurigkeit und Enttäuschung, dass es mir durch Mark und Bein ging. Irgendwoher kannte ich sie, konnte aber den dazugehörigen Besitzer nicht ausmachen.
„Bist du dir sicher?“, fragte einer der Fünf, die mich hatten aufhalten wollen. Ich tippte auf Seamus Finnigan, war mir aber nicht ganz sicher – die Gryffindors kannte ich nicht genauer.
„Bin ich. Und jetzt schafft sie hier weg, der Kampf ist vorbei…“
„Und wohin?“
„Ihr könnt sie zu mir bringen, ich finde schon was für sie, nicht, Kleine?“
Molly! Es war Molly Weasley, die sich da ganz selbstbewusst durch die Wand der fünf Jungen drängelte und auf mich zukam. Ich konnte nicht anders, als ihr in die Arme zu fallen. Ich hatte sie sehr gern, auch, wenn sie manchmal ein wenig „ruppig“ erschien – sie war immer für jeden da, der sie brauchte, eine richtige Bilderbuchmutter, möchte man meinen, so eine Mutter, wie ich sie nie gehabt habe…
Sie nahm mich in die Arme und schob mich zum Rest ihrer Familie: die am Rand auf einem Trümmerplateau saßen. Sie sahen alle geschafft aus und jede Stirn schien die Aufschrift „Sprich mich nicht an!“ zu tragen, was recht Weasley-untypisch war.
Ich sah Ron, der zwischen Hermine und Harry saß, Ginny neben Harry; allesamt etwas abseits; dann einen mir bis dahin unbekannten Rotschopf, Arthur, Bill und Fleur die allesamt aufstanden, als sie Molly und mich auf sich zugehen sahen; George und Fred sah ich nicht.
„Darf ich vorstellen: Selena Rain. Ich habe sie gerade aufgegabelt und ich denke, es wäre gut, wenn wir sie erst mal mitnehmen. Soweit ich weiß existiert inzwischen keine Familie mehr…“, sie sah mitleidig auf mich herab. „Das weißt du doch schon, oder?“
„Äh… Nein?“, piepste ich. Das war ein Schock! Jetzt war nicht nur mein leiblicher Vater weg – sondern wohl auch der Rest… Ich fragte mich zwar, was meine Mutter dazu getrieben hatte, sich in Voldemorts Gefolge einzureihen, aber das war mir eigentlich egal; sie hatte seit jeher das getan, was ihrer Ansicht nach vorteilhaft wäre und ich musste gestehen, davon ausgegangen zu sein, dass Voldemort diese Schlacht gewonnen hatte – offenbar nicht. Obwohl die Situation zwischen mir und meiner Mutter seit dem Tod meines Vaters merklich abgekühlt war, hatte ich das Gefühl, als würde ein – weiterer – Teil meines Herzens sich lösen und einfach abbröckeln. Die altbekannte Leere stieg in mir auf und ich unterdrückte den spontanen Impuls, einfach loszuheulen.
„Das tut mir leid, Kind. Du kannst gern erst mal mit zu uns kommen.“
„Danke.“
„Hallo Selena, wenn ich mich vorstellen darf: Ich bin Charlie, ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen.“
„Ja, hallo Charlie.“, förmlich schüttelte ich seine kalte, von Narben überzogene Hand und fragte mich, wie in der Welt man so viele Narben auf so einem kleinen Stück Haut haben konnte – zugegebenermaßen hatte ich keine einzige Narbe, bei mir verheilte alles nach Wunsch; schon Harrys mysteriöse Narbe war mir höchst suspekt vorgekommen.
„Ich denke, wir apparieren jetzt besser nach Hause, Molly.“
„Ja! Ja, das wird wohl das Beste sein…“, sagte sie und wirkte auf mich leicht geistesabwesend, dann fasste sie sich und rief ihre Kinderschar samt Anhang zusammen, die auf ihren Ruf hin sofort kamen, als hätte man sie darauf trainiert.
„Harry, möchtest du mitkommen oder hast du andere Pläne? Was ist mit euch, Hermine, Ron?“
„Ich schätze, wir kommen mit.“, übernahm Harry die Antwort für alle drei.
„Gut, dann macht euch bereit!“
„Ähm… Mrs. Weasley, haben Sie tatsächlich vor sie“, Harry deutete auf mich, „mitzunehmen?“
„Oh ja, das habe ich tatsächlich vor!“, sagte sie in einem derart überzeugten Ton, dass Harry zusammenfuhr und bedrückt nach unten sah.
Wir apparierten. Und ich torkelte wie immer beiseite und übergab mich. Ich vertrug dieses in einen Strohhalm gezogen und in Lichtgeschwindigkeit irgendwohin gebeamt werden einfach nicht.
„Hey, alles in Ordnung?“, fragte Charlie mich und legte eine Hand auf meine Schulter.
„Ja, danke. Nur dieses Apparieren ist echt … übel.“
Er lachte. „So ging es mir am Anfang auch.“
Nur, dass ich nicht zum ersten Mal appariert war und mich jedes Mal aufs Neue übergab…
„Ich geh mich mal besser duschen.“
Auf dem Rückweg verwickelte mich Charlie ganz unbefangen in ein Gespräch. Offenbar war er nicht – wie Harry – der Ansicht, dass ich „der Feind“ war.
„Du, Charlie, weißt du, wo Fred und George sind? Ich hab sie noch gar nicht gesehen.“, fragte ich ihn.
Ein dunkler Schatten legte sich über sein Gesicht. „Fred ist … ist beim Kampf von einem herabfallenden Felsbrocken erwischt worden er … er hat es nicht überlebt. George ist kurz bevor du kamst in seinen Laden appariert, er wollte allein sein. Ich hab das Gefühl, dass es jemanden geben müsste, der ihm da heraushilft. Es ist ja quasi seine ‚bessere Hälfte‘, die jetzt fehlt. Aber er wollte nicht, dass irgendwer mitkommt.“
Ich starrte ihn mit großen Augen an. Fred? Tot? Einfach … so? Ich hatte ihn zugegebenermaßen nie sonderlich gemocht, aber ich wusste, wie viel er George bedeutete, dass es in der Tat so war, dass er Fred als seine „bessere Hälfte“ angesehen hatte. Natürlich war er ein eigener Mensch, aber trotzdem hatte er beinahe jede Minute in Gesellschaft seines Bruders verbracht. Früher hatte ich George einmal scherzend gefragt, ob die beiden im Kindergarten auch – wie einige der Mädchen – zusammen auf die Toilette gegangen sind. (Er bejahte übrigens.) Dass Fred jetzt auf einmal nicht mehr da sein sollte, musste für George ein tiefsitzender Schock sein.
„Ich, ähm, geh dann besser unter die Dusche…“, stammle ich und renne fort.

Wir aßen an diesem Abend alle gemeinsam an dem großen Tisch der Weasleys. Es war irgendwie still, ohne Fred und George. Ich kauerte auf meinem Stuhl und sagte nichts, essen wollte ich auch nicht so recht, tat es aber Molly zuliebe, weil ich genau wusste, welche Sorgen sie sich machen würde, wenn ich jetzt das Essen einstellte – ich war ihr so schon viel zu klein, viel zu zierlich und viel zu was weiß ich nicht noch. Im Gegensatz zu Ron wusste ich Mollys bemutternde Art beinahe zu schätzen.
„Du siehst blass aus.“, stellte Charlie fest.
„Hmm…“, seufzte ich nur.
„Sag mal, woher kennst du George und Fred eigentlich? Ich dachte, du wärst mit Ron befreundet? Bist doch in seinem Alter oder?“ Drei schwere Fehler auf einmal: Der Erste und in diesem Moment unwichtigste war, dass ich aufgrund meiner geringen Körpergröße mal wieder üblich jünger geschätzt wurde. Der Zweite war, mich zu diesem Ron zu stecken. Und der Dritte war, jetzt, in diesem Moment, Fred und besonders George zu erwähnen. Ich wusste, Charlie meinte es nur gut, daher schwieg ich nur, ohne ihm eine meiner üblichen gepfefferten Bemerkungen hinzuschmeißen – zumal dieses hier nicht einmal mein Haus war. Ich hatte keine Wohnstätte mehr, ich war hier nur „Urlauberin auf Zeit“.
„Sie ist mit George zusammen…“, murmelte Harry und ich sah in seinem Gesicht einen Hauch von Unverständnis Ablehnung.
„Ohhhhh….“, kommentierte Charlie leicht geschockt.
„Zusammen ist wohl übertrieben.“, schluchzte ich, hielt mir die Hände vors Gesicht und rannte weinend in das Zimmer, das mir zugeteilt worden war und das ich vorrübergehend mit Hermine Granger teilen würde.
„Hey, ist ja gut, hm? Charlie ist im Umgang mit Frauen irgendwie unbegabt: Entweder wird er verletzt oder er ist es, der so richtig in den Schlamm haut.“ Ich hatte nicht bemerkt, wie Hermine ins Zimmer gekommen war. Sie musste mir offenbar nachgelaufen sein.
„Charlie kann ja nichts dafür… Ich bin eigentlich eine totale Heulsuse!“, erklärte ich ihr und musste mir eingestehen, dass ich mit Hermine Granger – einer Muggeltochter, einer ehrgeizigen Besserwisserin und einer Gryffindor redete.
„Na ja… Ich befürchte, das bin ich auch. Und frag erst mal Ginny!“ Allerdings einer einfühlsamen Muggeltochter, Gryffindor und Besserwisserin, das musste ich ihr zugestehen.
Ich lächelte durch meinen Tränenschleier hindurch.
„Magst du Pudding? Luna liebt Pudding, sie sagt, er würde die blödesten Stimmungen vertreiben. Und Molly kann wunderbaren Pudding kochen!“
„Wer ist Luna?“
„Luna Lovegood, ein bisschen verrückt, aber alles in allem ganz nett.
„Ahhh. Geschmackssache. Aber … Pudding ist gut!“
„Dann komm mit, wir peppeln dich vorher im Bad noch ein bisschen auf und dann gibt’s Pudding. Außerdem ist heute noch eine Quidditch-Liveübertragung von Uganda gegen … äh, nicht so wichtig!“, flötete sie und zog mich ins Bad.

Hermine wuchs mir in den kommenden Tagen sehr ans Herz. Ich hätte nie gedacht, dass in dieser zickigen Angeberin so eine Seele von Mensch stecken konnte. Sie war neben Molly auch die Einzige, die mich gelegentlich aus meinem Trauerschleier herauszog, der sich mit jedem Tag stärker über mich auszubreiten schien. Die meiste Zeit hockte ich auf dem Sofa der Weasley und starrte in die Gegend. Ich wollte nicht allein sein, aber mit jemandem reden wollte ich auch nicht. Ich gehörte einfach zum Mobiliar, konnte man sagen.
„Lena, so geht das nicht weiter!“
„Nenn mich nicht Lena, bitte.“
„Ja, genau das meine ich! Du kannst nicht hierhocken und anderen beim Leben zu sehen, während du mit jedem Tag mehr zu sterben scheinst!“, Hermine atmete tief durch, „Lena, wie wäre es, wenn du George einfach mal eine Eule schreibst? Ich glaube, er weiß nicht einmal, dass du hier bist.“
„Es würde ihn doch sowieso nicht interessieren.“
„Du spinnst doch! Natürlich würde es das. Im Gegensatz zu Fred weilst du nämlich noch unter den Lebenden. Auch, wenn ich das Gefühl habe, dass du das gerade nicht unbedingt wahrhaben willst.“
Ich verzog meine Lippen zu einem „formschönen Schmollmund“, wie George immer gesagt hatte. – George! Den ganzen Tag ging das so. Alles erinnerte hier in diesem Haus an ihn und seinen Zwillingsbruder.
„Okay…“, murmelte ich, nur, um Hermines gute Art wenigstens für den Moment loszuwerden.
„Okay?“, fragte sie beinahe misstrauisch.
„Okay.“
„Guuut, hier hast du Feder und Papier.“, es schien nahezu bereitgestellt gewesen zu sein, so schnell wedelte sie mit der Schreibfeder und dem Pergament vor meinem Gesicht herum.
Ich seufzte. „Hermine...“
„Neee, nix Hermine! Du schreibst jetzt!“, Ginny war neben mich getreten und stieg voll in Hermines Unternehmen mit ein. Die beiden waren aber auch zu …!
„Also gut. Aber ihr guckt mir ja nicht zu, klar? Und, äh, Ginny, darf ich vielleicht deine Eule haben? Ich kann ihren Namen zwar nicht aussprechen, aber ich glaube, sie ist etwas zuverlässiger als äh … na ja, du weißt schon.“
„Klar, wenn du jetzt schreibst, gern!“
Also schrieb ich. Strich durch und schrieb genau dasselbe wieder hin, strich es wieder durch und formulierte neu. Nur, um am Ende genau das wieder zu schreiben, was ich beim ersten Mal bereits geschrieben hatte…
„Lieber George,
um ehrlich zu sein haben mich Hermine und Ginny beinahe dazu gezwungen, dir zu schreiben. Ich habe keine Ahnung, wie es dir geht… Genau genommen weiß ich nicht einmal, wie es mir selbst geht.“
So ein Schrott! Ich konnte einfach keine Briefe schreiben!
„Ich habe nicht einmal eine Ahnung, was ich dir schreiben sollte. Alles kommt mir falsch und fehl am Platze vor. Du musst dich nach dem Tod von Fred furchtbar einsam fühlen und es gibt nichts, was dies verändern könnte…
Ich weiß, es ist egoistisch und selbstsüchtig, das von dir zu verlangen, aber ich möchte dich bitten, wenigstens einmal von dir hören zu lassen. Ich liebe dich und egal, ob du dieses Gefühle erwiderst oder nicht, ich möchte für dich da sein, gerade jetzt und in diesem Moment.“
„Geht doch!“, triumphiert Hermine.
Ich sehe sie nur gequält an, seufzte und rolle das Papier zusammen. Ginny hat inzwischen ihre Eule geholt und hält sie mir auffordernd hin. Die dunkle Eule guckt mich nur mit großen Augen an, als wisse sie ganz genau, dass ich eigentlich gar nicht die Absicht hatte, sie mit einem Auftrag zu versehen.
„Also gut…“, murmle ich, binde das Pergament an den Füßen der Eule fest und bringe sie zum Fenster. Sehnsüchtig blicke ich ihr nach, als könnte ich mich auch einfach in die Luft fallen lassen und davonfliegen.

Die Tage vergingen und es geschah … nichts. Ich ging davon aus, dass George den Brief zwar bekommen hatte, es aber nicht für nötig hielt, zu antworten. Charlie und Fleur verabschiedeten sich auch bald von der Familie. Ron und Hermine steckten in den buntesten Zukunftsplänen und Harry versuchte Ginny von dem Gedanken abzubringen, die Schule ein Jahr vor ihrem Abschluss noch abzubrechen. Kurzum: jeder war mit etwas anderem beschäftigt und hing seinen eigenen Gedanken nach. Meine „Welt“ war immer noch das Weasley-Sofa und Arthur fragte mich einmal scherzhaft, ob ich es nicht behalten wolle, es wäre sowieso mal Zeit für ein neues Sofa. Allerdings war ich nach dem Tod meiner Eltern beinahe reich, konnte man sagen. Ich versuchte wenigstens, mir ein neues Leben nach der Schule einzurichten und ein erster guter Schritt wäre es, so dachte ich, zu dem neuaufgebauten Gringgotts zu fahren und mal das Finanzielle durchzugehen. Zwar würde ich dabei darauf achten müssen, ja nicht an Georges Laden vorbeizukommen, aber das würde sich schon verhindern lassen – die Winkelgasse war lang und groß und inzwischen wohl auch wieder voller Menschen, die sich vor den zugestellten Schaufenstern tummelten. Eine Eule wäre vielleicht auch eine gute Idee und wer weiß, vielleicht fand ich dort auch eine Idee vorrübergehende Anstellung. Ich konnte den Weasleys nicht auf der Tasche liegen – das verbat schon allein mein Stolz. Also machte ich – allein – einen Ausflug in die Winkelgasse und musste feststellen, dass ich tatsächlich Alleinerbin eines beträchtlichen Betrages war. Also besorgte ich noch so dies und jenes, alles, was mir halbwegs sinnvoll erschien und auch ein paar Kleinigkeiten für Harry, Hermine, Ginny und Ron. Für mich besorgte ich unter anderem auch eine wunderschöne Schneeeule, die mich mit ihrem treuen Blick sofort gefesselt hatte.
Schließlich, es war bereits sehr spät geworden, kehrte ich in das Haus der Weasleys zurück. Zu meinem Erstaunen war noch Licht im Wohnzimmer und ich brauchte mich nicht wie eine Diebin durchs Haus zu schleichen – was mit meinen schweren Paketen und der Eule auch kein sonderlich leichtes Unterfangen gewesen wäre.
„Huhu! Ich bin wieder da. Hab euch auch was mitgebracht.“, rief ich, stellte die Sachen ab und zog meinen schweren Mantel aus. Als keine Antwort erklang, wurde ich stutzig und schließlich betrat ich mit griffbereitem Zauberstab das Wohnzimmer.
Da saßen sie alle am Tisch – „alle“ schloss einen blassen, abgemagert wirkenden George mit tiefen Augenringen ein, der ganz hinten am Kopf des Tisches saß.
„Hey Lena.“, es schlich ein müdes Lächeln über sein Gesicht.
Ich stand stocksteif da und starrte ihn mit großen Augen an.
„Du hast Geschenke mitgebracht?“, fragte Ron ganz ungeniert, erntete dafür allerdings einen kräftigen Seitenhieb von Hermine, der ihn fast vom Stuhl warf. Alle lachten – bis auf mich und George. Wir schienen in einer völlig anderen Zeit zu stecken und den jeweils anzustarren, als würde er vom Mond kommen.
Ich fasste mich schließlich: „Ja gut, wenn du jetzt hier bist, dann geh ich wohl mal lieber…“, ich wandte mich um und griff wieder nach meinem Mantel.
„Nein!“ Ich erschrak, George hatte fast das ganze Hause zusammengeschrien. „Nein, ich lasse dich nicht noch einmal gehen, nicht auch noch du!“
Er kam hinter mir her und hielt mich an den Schultern fest.
„Und warum bitte hast du dich so lange nicht gemeldet? Was liegt dir eigentlich noch an mir? Liebst du mich überhaupt noch?“, fragend sah ich ihm in die blauen Augen.
Ohne ein weiteres Wort gab er mir einen langen, leidenschaftlichen Kuss; als könne er damit alle Fragen beantworten, alle Verluste aufwiegen, alle Probleme wie Nichtigkeiten aus dem Weg räumen.
Schließlich löste er sich von mir und fragte vorsichtig: „Kommst du mit mir?“
„Wohin?“, fragte ich verwirrt.
„In den Laden, ans Ende der Welt … keine Ahnung, wohin du willst. Aber bitte, geh nicht weg. Ich weiß, ich hätte dich niemals so lange alleinlassen sollen, es tut mir schrecklich leid. Ich wusste nicht, was es bedeutet, einen Menschen zu verlieren – jetzt weiß ich es. Und ich will dich nicht verlieren.“

Georges plötzliches Wiederauftauchen hatte mich damals sehr überrascht – aber natürlich hatte ich mitkommen wollen. Wir haben uns am Stadtrand von London ein gemütliches Haus mit großem Garten (Platz für experimentierfreudige Väter und Kinder) gekauft. Außerdem konnte ich Arthurs Sofa-Scherz tatsächlich noch in die Wahrheit umsetzen: das Sofa der Weasleys steht jetzt in unserem Wohnzimmer, im Gegenzug habe ich ihnen dafür ein viel Größeres besorgt, das auch ein wenig besser ins Haus der Weasleys passt. Fred und ich arbeiten im Laden, nachdem ich einen Gutteil meines Erbes investiert hatte, konnten wir mithilfe von Fleur in Paris einen Zweitladen aufmachen, der fast genauso gut wie der in der Winkelgasse läuft. Fred fehlt uns, besonders George, man spürt es manchmal, wenn er alten Gedanken nachhängend auf dem Sofa kauert. Aber es geht ihm wieder deutlich besser, zumal er von unseren beiden Kindern – Fred und Roxanne – nur zu gern auf dumme Gedanken gebracht wird (ich sage nur „Gartenlaube“, wo andere ihre Gartengeräte haben, ist bei uns ein Süßigkeiten-Labor).

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⏰ Last updated: Oct 15, 2013 ⏰

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