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Mir wird etwas bewusst. Davis ist genauso wie Hanna. Sie redet auch so mit mir. Als könnte ich sie tatsächlich hören. Sie achtet nie darauf, ob ich auch wirklich ihre Lippen lesen kann. Sie redet einfach. Bei Davis ist das auch so. Der einzige Unterschied ist, dass Hanna von sich erzählt und Davis von allem anderen.

Auch auf der Fahrt zu Oma Nola erzählt Hanna etwas, bei dem ich schon lange nicht mehr zuhöre. Ich lese mein Buch weiter. Allerdings kann ich Tessa und Gaven hin und wieder aus Frust seufzen hören. Wahrscheinlich wünschen sie sich bei dem vielen Gerede auch, dass sie taub seien.

"Mama, Elisha hat auch gesagt, dass du meine Haare nicht schneiden sollst", sagt Hanna und unterbricht ihre eigene Geschichte, die sie bis eben noch voller Euphorie erzählt hat.

"Schätzchen, Elisha kann nicht sprechen", teilt ihre Mutter ihr leicht überfordert mit. Hanna schüttelt kindlich den Kopf hin und her.

"Das weiß ich auch aber glaub mir, sie will das auch nicht." Sie klingt so überzeugt davon, dass ich mich frage ob sie vielleicht Gedanken lesen kann.

Ich klappe mein Buch zu und sehe, dass Tessa mich aus ihrem Rückspiegel betrachtet. Als sich unsere Blicke treffen, lächelt sie mich an. Auf Hanna antwortet sie nicht mehr. Ich lasse meinen Blick auf Gaven fallen, der konzentriert auf die Straße starrt. Ich bin überrascht, dass er sich doch bereit erklärt seinen Vater zu sehen und wir jetzt auf dem Weg dorthin sind. Schließlich weiß ich, was alles in ihm vorgeht. Genau so wie ich über meinen Schatten springen musste, um die Freundschaft mit Davis weiter beizubehalten, springt er über seinen Schatten, um sich wieder mit seinem Vater zu versöhnen.

"Alles in Ordnung?", höre ich Tessa so leise fragen, dass Hanna es nicht mitbekommt. Sie legt eine Hand auf den Arm ihres Mannes und sieht ihn besorgt an. Genau als Gaven ihr lächelnd zunickt, vibriert mein Handy in meiner Hosentasche. Als ich es rausnehme, sehe ich, dass ich eine Nachricht von Davis bekommen habe.

Davis: Elishaaa, was machst du?? :)

Irgendwie muss ich über seine Nachricht lächeln, denn ich kann mir vorstellen, wie jammernd er dabei klingt. Amüsiert schreibe ich ihm zurück, dass ich auf dem Weg zu meinen Pflegegroßeltern bin.

Davis: Dann werde ich dich heute gar nicht sehen?? :o

Elisha: Einen Tag solltest du aushalten 👍

Davis: Du überschätzt mich, Täubchen :)

Elisha: Täubchen??

Davis: Na irgendeinen Spitznamen muss ich dir ja geben :P

Ich verdrehe die Augen bei seiner Antwort. Er hat mich nicht mehr mit Elli angesprochen, seitdem ich ihm die Notiz auf das Lenkrad geklebt habe. Er hat mich auch nie gefragt, warum er mich nicht so nennen durfte. Ich bin froh, dass er es einfach akzeptiert hat. Aber Täubchen? Wirklich? Ist das etwa das Einzige, das ihm noch einfällt? Ich kann nicht anders als darüber zu schmunzeln.

"Denkst du, sie hat einen Freund?", höre ich Tessa plötzlich fragen. Ich sehe nicht hin, doch bin mir trotzdem sicher, dass sie mich meint. Hanna kann es ja nicht sein.

"Wie kommst du jetzt darauf?", fragt Gaven und scheint auch Interesse an dem Thema zu haben.

"Na, sieh doch wie sie lächelt, wenn sie in ihr Handy schaut. Bestimmt schreibt sie gerade mit einem Jungen."

Ja und dieser Junge ist mein Freund, ein Kumpel, ein einfacher Junge eben. Warum kommen alle immer gleich auf den Gedanken, dass etwas Ernsteres als Freundschaft zwischen uns ist? Können Jungs und Mädchen nicht einfach Freunde sein? Ich spüre die Blicke von meinen Pflegeeltern auf mir. Nicht nur ich, auch Hanna kriegt alles mit.

Stumme Gedanken {Leseprobe}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt