Teil 2 - Kapitel 16 - Ich tue es

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Wenn man liebt, sucht man die Schuld bei sich, nicht beim anderen.
- Richard Burton

Spencer

Nachdem er Harriet in den Kopf geschossen hat, bricht Chaos aus. Das Einsatzkommando stürmt das Wartezimmer. Ryan ist so perplex, dass er zu spät reagiert und verhaftet werden kann. Als er abgeführt wird und unsere Blicke sich treffen, lacht er mich an. Ich breche neben Harriet auf dem Boden zusammen, rüttele an ihren Schultern und schreie ihren Namen. Eine Pfütze aus Blut bildet sich unter ihrem Körper und sie bewegt sich nicht. Ich halte ihr zwei Finger an den Hals und atme erleichtert auf, als ich ihren Puls spüren kann. Ein schwacher Puls, aber immerhin lebt sie. Als der Krankenwagen eintrifft, wird sie auf einer Trage zum Wagen gebracht. Als ich ebenfalls einsteigen will, hält mich jemand zurück.
"Ich bin ihr Ehemann!", brülle ich und der Arzt lässt mich zu ihr.
Es kam leicht über meine Lippen, doch es löst ein komisches Gefühl in mir aus.
Ich bin verheiratet. Vielleicht nicht mehr lange. Der Wagen fährt los. Ein anderer Notarzt gibt ihr eine Spritze und verbindet ihren Kopf, um die Blutung zu stoppen. Wenn sie nicht an der Schussverletzung stirbt, könnte sie wegen des Blutverlustes sterben. Es ist ohnehin ein Wunder, dass Harriet noch lebt. Ich murmele ihren Namen vor mich hin und halte Tränen zurück, um stark für sie zu sein.
"Kommen Sie", meint der Arzt. "Nehmen Sie ihre Hand."
Ich hocke mich auf den Boden und verschränke Harriets schlaffe Finger mit meinen. Ihr Blut klebt an mir. Für einen kurzen Moment öffnet sie die Augen. Ihr Körper verkrampft sich und sie verliert erneut das Bewusstsein.

Derek

"Wo ist Reid?", fragt Hotch.
Das Einsatzkommando hat die Geiseln in Sicherheit gebracht. Ein Fachmann entfernt den Sprengstoff.
"Er ist mit Harriet ins Krankenhaus gefahren."
Hotch nickt langsam. "JJ redet gerade mit der Presse. Wenn sie fertig ist, fahre ich sofort zum Krankenhaus." Sein Blick ist schuldbewusst.
"Ich komme mit", sage ich.
Hotch spielt nervös mit dem Zipfel seiner Jacke. So habe ich ihn noch nie gesehen. Er ist ... verzweifelt. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter.
Jetzt spreche ich als Freund zu ihm, nicht als Kollege. "Aaron, es ist nicht deine Schuld."
Er schüttelt den Kopf. "Doch, das ist es. Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen."

Spencer

Ich wurde ins Wartezimmer verbannt. Harriet durfte nicht in das Krankenhaus geliefert werden, in dem die Geiseln festgehalten wurden. Momentan wird evakuiert, da Grund zur Annahme besteht, dass Ryan Sprengstoff im ganzen Gebäude versteckt hat. Glücklicherweise befindet sich ein weiteres Krankenhaus unmittelbar in der Nähe. Ich laufe aufgebracht im Raum hin und her. Eine halbe Stunde später trifft das Team ein. JJ umarmt mich vorsichtig. Als ich die Umarmung etwas unbeholfen erwidere, kann ich mich nicht länger beherrschen und Tränen fließen mir über die Wangen.
"Sie wird sterben!", schluchze ich.
Die Erkenntnis bringt mich um. Das darf einfach nicht passieren. Nicht sie. Nicht meine Harriet. Ein Arzt kommt zu uns. Bei meinem Anblick wirkt er schockiert, hat sich jedoch schnell wieder unter Kontrolle. Ich bin mit Harriets Blut übersät. Vermutlich sehe ich so aus, als hätte ich ihr persönlich in den Kopf geschossen.
"Wir können die Kugel operativ entfernen. Wenn wir das tun, müssen wir sie in ein künstliches Koma versetzen, damit sich der Körper erholen kann."
"Wo liegt das Problem?", frage ich.
Jeder lauscht gebannt seinen Worten.
"Wir können nicht garantieren, dass sie aus dem Koma erwacht. Falls bei der Operation Komplikationen auftreten, wird sie dauerhafte Schäden davontragen. Außerdem hat sie penetrierende Schädel-Hirn-Verletzungen und wir können noch nicht einschätzen, in welchem Ausmaß die Schäden vorliegen."
Ich wünschte, ich könnte an ihrer Stelle sein. Ich wünschte, ich könnte in die Vergangenheit reisen, um sie daran zu hindern, in das verdammte Wartezimmer zu gehen, doch ich kann es nicht. Ich muss eine Entscheidung treffen. Mein Kopf fühlt sich leer an. Was soll ich tun? Meine Entscheidung wird ihr Leben beeinflussen.
"Was raten Sie?", frage ich schließlich.
Alle Blicke sind auf mich gerichtet.
"Ich rate Ihnen zu dem künstlichen Koma. Andernfalls ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie an einer Gehirnblutung stirbt."
Ich brauche Fakten. "Wie hoch?"
"Achtzig Prozent."
Ich zittere am ganzen Körper. Ich bin nicht dazu fähig, diese Entscheidung zu treffen. Wenn ich mich falsch entscheide, stirbt sie. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Morgan erwidert meinen Blick, auch er ist ratlos.
"Sir, wir brauchen eine Entscheidung."
Meine Stimme zittert. "Operieren Sie."
Der Arzt klopft mir auf die Schulter. Unter seiner Berührung zucke ich zusammen, doch er merkt es nicht.
"Sie tun das Richtige", sagt er und verschwindet.

Nach einer Weile verliere ich das Gefühl für Zeit. Ich weiß nicht, wie lange ich schon im Wartezimmer sitze und warte. Manche sind bereits gegangen. JJ musste nach Hause, sich um ihren Sohn kümmern. Morgan ist zu seiner Freundin gefahren, um ihr zu erzählen, was passiert ist. Rossi, Garcia und Hotch sind noch da. Auch Emily ist für ein paar Stunden hier gewesen.
"Ihr müsst nicht warten. Ich schaffe das", sage ich. "Aaron, gehe zu deinem Sohn."
Normalerweise spreche ich mit Hotch nicht auf diese Weise. Falls er überrascht ist, lässt er es sich nicht anmerken.
"Ich habe Jessica angerufen. Sie passt auf ihn auf."
Eine Weile warten wir schweigend. Nur das Ticken der Uhr ist zu hören. Ich kann jetzt nichts tun. Ich sollte nach Hause fahren, duschen und mich umziehen. Stattdessen kratze ich getrocknetes Blut von meinen Händen. Die anderen beobachten mich, doch niemand wagt es, etwas zu sagen.
"Ich gebe dir nicht die Schuld", sage ich und breche das Schweigen.
"Ich weiß", sagt Hotch und senkt den Kopf. "Ich tue es."

Criminal Minds - Spencer und HarrietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt