Erstes Kapitel

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"It is a great misfortune to be alone, my friends; and it must be believed that solitude can quickly destroy reason."

Jules Verne - The Mysterious Island

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London - 1938

»Meine Mama ist ertrunken. «

Das braunhaarige Mädchen mit den komischen Ohren redete so laut, dass Claire sie bis hin zu ihrem Platz deutlich verstand. Der Mund des Mädchens war mit Suppe und Gemüse gefüllt, sodass sie schmatzende Geräusche von sich gab, während erzählte. Sie hieb mit einem Löffel auf den aufgeweichten Möhren der Suppe auf ihrem Teller herum, ganz so als wäre das orangene Gemüse ein Feind, den es zu vernichten galt. Manchmal tat Claire das ebenfalls wenn niemand neben ihr saß mit dem sie sich unterhalten konnte- dann verwandelten sich die viel zu salzig schmeckenden Bohnen plötzlich in kleine, giftige Schlangen die sie schnellstmöglich töten musste. Heute war ihr allerdings nicht langweilig; Heute redete das Mädchen mit den komischen Ohren ja laut.

»Und mein Papa wurde erschossen. «

Die Kinder um sie herum hingen ihr wie gebannt an den Lippen und guckten entsetzt drein. Anscheinend gefiel das dem Mädchen, denn sie richtete sich auf ihrer Sitzbank auf und hob das Kinn, damit noch mehr Leute sie hören konnten.

»Er wurde von einem bösen Mann erschossen, der sein Geld haben wollte.«, erklärte sie fast schon stolz.
»Das hat ganz doll geknallt, und das ganze Haus hat gezittert wie bei einem Erdrütteldings. Mein Papa hat ganz laut geschrien. «

Nachdenklich zerriss Claire ihre Scheibe Brot und stopfte sich die eine Hälfte in die linke und die andere in die rechte Wange. Irgendwie glaubte sie dem Mädchen mit den komischen Ohren nicht. Zum einen war sie sich nicht so sicher, ob bei dem Schuss einer Pistole Häuser wackelten und zum anderen kam es ihr merkwürdig vor, dass das Mädchen die Geschichte so erzählte als ob vor Schmerzen schreiende Väter etwas Wünschenswertes waren.

»Hat er auch geblutet? «, fragte ein Junge mit Hasenzähnen, der mit großen Augen auf einem Holzlöffel herum nagte während er ihrer Erzählung interessiert folgte.

»Und wie!« Das Mädchen begann wild mit ihren kleinen Armen zu gestikulieren und schleuderte somit die restliche Suppe von ihrem Löffel in die Luft. Einige Kinder wissen den flüssigen Geschossen aus, andere waren zu interessiert an ihrer Geschichte um sich auch nur zu regen. »Das hat gespritzt und geblutet, sodass ich dachte ich müsse gleich in dem Blut ertrinken! «

Leicht angewidert schluckte Claire das Brot hinunter und spülte noch etwas Wasser hinterher. Das klang schrecklich. Wahrscheinlich war das Mädchen im Kopf nicht ganz richtig seitdem das alles passiert war. Oder sie war Verrückt und mochte Blut. Geekelt zuckte sie zusammen und verdrängte den Gedanken schnellstens- wer mochte schon Blut?

»Hattest du denn gar keine Angst? «, wollte nun ein etwas älterer Junge mit knallroten Pickeln im Gesicht wissen. In seiner Stimme schwang derselbe Unglaube mit, den auch Claire verspürte.

»Angst? « Die mit den komischen Ohren lachte schrill auf. »Ich und Angst? Ich habe den Mörder die ganze Nacht lang verfolgt! Ich habe ihn verhaften lassen, jetzt hängt er am Galgen! «

Erstauntes Gemurmel breitete sich unter den Umstehenden aus und Claire beschloss im Stillen, dass das Mädchen log. Niemand hing heutzutage noch am Galgen, da war sie sich fast ganz sicher.

»Das glaube ich dir nicht, du lügst doch. «, schrie der Junge mit den Pickeln so laut durch den Essenssaal, dass einige der Kinder unwillkürlich zusammen zuckten. »Ich wette, du hast dir vor Angst in die Hosen gekackt! «

Vergangen // Tom RiddleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt