Er hatte ihr das Geschehene mit bisher keinem einzigen Wort erklärt - natürlich nicht. Immerhin ließ Sherlock Holmes sich nur äußerst seltendazu überreden, irgendetwas über seine sonstige Persönlichkeit preiszugeben.
Er war ein hochfunktionaler Soziopath, intelligent, mit einem ausgeprägten Hang zur Arroganz und Ignoranz gegenüber anderen Menschen und jederzeit bereit ihnen seine Meinung an den Kopf zu werfen. Generell interessierten ihn seine Umwelt nicht im Geringsten - es sei denn sie war ihm für seine persönlichen Ziele von Nutzen - und dennoch ahnte Molly, dass er hinter der kühlen unnahbaren Fassade mit der er andere Menschen regelmäßig verletzte, noch etwas anderes verbarg. Womöglich war er wirklich so gefühllos, wie er immer behauptete, doch diese Aussage war keineswegs gleichbedeutend mit der Tatsache, dass er so etwas wie Gefühle nie gehabt hatte.
Ihr Blick wanderte wieder zu Sherlock, dessen Gesichtszüge selbst nach Bill Wiggins Tod nahezu versteinert zu sein schienen. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen und draußen lichteten sich bereits die ersten Wolken. Sherlocks dunklen Locken waren wie so oft vom Wind zerzaust, was die Pathologin trotz der Umstände kurzzeitig zum Schmunzeln brachte. Es schien bereits eine Ewigkeit her zu sein, als sie ihn das letzte Mal dabei beobachtet hatte, wie er sich mit seinen üblichen Gesten durch die dunklen Locken gefahren war, nur um sie dann Sekunden später zu küssen. Selbstverständlich hatte er sie nicht wirklich geküsst, zumindest nicht aus Liebe. Der Detektiv hatte sich lediglich auf seine Art von ihr verabschiedet und dieses Eingeständnis schmerzte noch immer auf dieselbe Weise wie am ersten Tag.
Und dennoch hatte sie Sherlock nicht abgewiesen, als er sie zum Mittagessen eingeladen hatte. Sie wussten beide, dass es John war, mit dem sich Sherlock für gewöhnlich in diesem Restaurant traf, was Molly jedoch bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich verdrängt hatte. John, auf dessen Platz sie nun saß, die Beine übereinandergeschlagen und stets versuchend nicht nervös auf ihrer Unterlippe zu kauen. Der Consulting Detective hingegen schien beinahe vollständig in seinen Gedächtnispalast abgetaucht zu sein, doch statt seiner üblichen Pose hockte er ihr noch immer geradezu versteinert gegenüber. Er hatte weder die Augen geschlossen, noch zeigte er Anzeichen von vermeintlicher Ausgeglichenheit. Erst als sich einer der Kellner ihrem Tisch näherte, hielt die Pathologin es nicht mehr aus.
,,Sherlock?" stieß Molly fragend hervor und verfluchte sich sogleich dafür. Das letzte Mal hatte sie ihn geschlagen und nun war sie nicht einmal in der Lage ihm unauffällig gegen das Schienbein zu treten, obgleich sie sich eingestehen musste, dass es unter den aktuellen Umständen sowieso weniger ratsam gewesen wäre.
Bill Wiggins ist tot.
Der Gedanke ließ es ihr eiskalt den Rücken hinunterlaufen. Sie wusste nicht, ob Sherlock sich wirklich für Wiggins Tod interessierte oder ob es ihm lediglich um den Fall ging, aber insgeheim fürchtete sie, dass es Letzteres war.
,,Was ist... verdammt John!" Der Privatdetektiv sah geradezu verwirrt zu ihr herüber, ehe er seine Worte überhaupt realisierte. Vor wenigen Sekunden war er noch in seinem Gedächtnispalast gewesen, hatte nach einer weiteren Erklärung für Bill Wiggins Tod gesucht und nun hockte ihm erneut die Pathologin gegenüber. Es war immer sie. Was er tat, schien in irgendeiner Art und Weise immer auf sie zurückzuführen.
,,Entschuldigung. Molly." murmelte Sherlock schließlich, während er ihr wie zur Wiedergutmachung zunickte. ,,Möchtest du irgendetwas essen, trinken?"
Die Pathologin sog nahezu erschrocken die Luft ein. Hatte er dieses "Sie", dass sie trotz all den Jahren und den damit einhergehenden Fällen niemals aufgegeben hatten, gerade wirklich in ein "Du" umgewandelt?
,,Ähm..." Molly räusperte sich verlegen. ,,Bestellen... also bestellst du dir nichts?"
Ihr Blick wanderte zu Sherlock, der ihre Worte jedoch nur mit einem kurzen Blinzeln interpretierte, bevor er wieder seine übliche rationale Miene aufsetzte. ,,Ich esse nicht, wenn ich arbeite. Es..."
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Sherlock - Count on me
FanfictionSherlock Holmes neuster Fall wird ihm buchtsäblich vor die Nase gelegt, denn irgendjemand verteilt rund um die Bakerstreet die Leichen von Dorgenopfern, die angeblich schon seit Jahren clean waren. Währenddessen hat John als werdender Vater alle Hän...
