5. Frau Miller

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Frau Miller unterrichtete mich drei Jahre lang in Geografie, bis ich das Fach letztes Jahr abwählte. Ich mochte sie nie wirklich, hauptsächlich weil alles an ihr – Sprache, Gesicht, Haare, Brüste, Verhalten – unnatürlich waren. So hatte ich persönlich nie viel mit ihr zu tun, sie ließ mich damals im Unterricht weitgehend in Ruhe, und danach sah ich sie nur ab und zu auf dem Flur.

Doch was zur Hölle, trieb sie hier mit meinem Vater? Sie hatten mich nicht bemerkt, da die Beiden fünfmal lauter waren als ich und die Augen geschlossen hatten. Ich konnte nur mit offenem Mund starren und mein Herz zog sich vor Schmerz und Ekel, okay hauptsächlich Ekel, zusammen.

(Nicht, dass ich Angst vor Sex hätte, ich hatte bereits kurz vor meinem 16. Geburtstag mein erstes Mal, auch wenn die Beziehung nicht lange hielt. Es war nicht besonders gut und danach passierte auch nie wieder etwas. Aber ich wollte wirklich, wirklich nicht meinen Vater dabei zusehen!)

In diesem Moment öffnete Papá die Augen und blickte direkt in mein verzerrtes Gesicht. Er stockte mitten in der Bewegung und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen: „Marta, dios mio, que haces aquí?"

„Papá, ich... w.. was zu Hölle?", ich drehte mich auf dem Absatz um und stürmte die Treppe hoch in mein Zimmer. „Marta, warte!", schrie er. Frau Millers Reaktionszeit war wirklich sehr lang, denn sie bemerkte mich erst als ich schon fast weg war und riss den Mund auf.

Tränen traten mir in die Augen, als ich mich voller Entsetzen aufs Bett schmiss. Sofort umfing mich der süße Duft von unserem Weichspüler, der mich immer an Mamá erinnerte. Doch jetzt hatte ich Papá auch noch verloren. An diese Schlampe. Was viel ihm nur ein, so ein Verrat an Mamá!

Ich hatte keine Ahnung was in ihn gefahren war, ich wusste nur, dass seine Liebe zu Mamá ihn nie losgelassen hatte, zumindest hatte ich das geglaubt. Sie waren das glücklichste Paar auf Erden gewesen, und er war an dem Schmerz zerbrochen. Und jetzt trieb er es einfach mit dieser ekelhaften Frau, die dazu noch schätzungsweise zwanzig Jahre jünger war, als er. Und das auf unserem Sofa, wo Lola und ich abends Popcorn aßen und regelmäßig alle Disneyfilme ansahen? Wie konnte er nur...

Die ganze Aufregung des Tages übermannte mich, erst die Sache mit der Kartoffellkotze und Juliana, die Angst, dass Papá verletzt war und dann die schockierende Entdeckung.

Irgendwann schlief ich ein, die Arme fest um meinen kleinen lila Stoffhund, gekrallt. Ich hatte ihn von Mamá zu meinem dritten Geburtstag bekommen, er war schon unglaublich kaputt, wir hatten sogar mal einen neuen Knopf als Nase annähen müssen, und das linke Ohr viel fast ab. Normalerweise saß er in der Ecke meines Bettes, unter dicken Kissen, doch an solchen Krisentagen wie heute war er der perfekte Trostspender.

„Hey, hey mi corazón, ich muss mit dir reden.", die Stimme drang immer weiter in die Tiefen meines Traumes ein, doch erst nach mehreren Wiederholungen blinzelte ich verschlafen in die großen, nussbraunen Augen meines Vaters.

Auf einen Schlag fiel mir alles wieder ein. Ich rutsche weg von ihm, in die hinterste Ecke meines Bettes und schaute ihn böse an. Ich wusste, dass ich mich eigentlich für ihn freuen sollte, da er endlich wieder emotionale Bindungen zu anderen Frauen eingehen konnte, wenn man das so nennen konnte,  trotzdem kam mir sein Verhalten wie Verrat vor. Dann suchte er sich natürlich auch noch meine Lehrerin aus (und er wusste genau, dass sie das war!). Nur hatte ich keine Ahnung, ob das eine einmalige Sache gewesen war, oder ob mehr dahinter steckte. Ich wusste nicht, was mir lieber wäre.

„Was?", warf ich ihm an den Kopf, „hast du etwa schon genug von der, oder wollte sie nicht mehr, als sie rausgefunden hat, dass du der Vater von einer ihrer Schülerinnen bist?"

„Marta, du weißt genauso gut wie ich, dass das Ganze nichts damit zu tun hat, dass sie dich mal unterrichtet hat. Das ist wirklich was Ernstes. Claudia und ich haben uns kennengelernt, als sie ihren Hund bei mir untersuchen lassen hat und ich habe erst viel später herausgefunden, dass sie an deiner Schule unterrichtet."

„Viel Später? Wie lange geht das Ganze denn schon? Weißt du noch, was wir uns nach Mamás... du weißt schon, was wir uns versprochen haben? Das wir uns immer alles erzählen und die Wahrheit sagen! Du verrätst sie, und Lola und mich gleich mit!"

Seine Augen verdunkelten sich mit einem Schlag, sie wirkten jetzt fast schwarz und eine tiefe Traurigkeit lag in ihnen. Ich war zu weit gegangen.

„Marta, ich... ich kann verstehen, dass die Situation nicht einfach für dich ist und wir hätten dir das Ganze wirklich liebe auf eine andere Weise mitgeteilt, du hättest das wirklich nicht sehen sollen... Ich habe Mamá nicht vergessen, sie wird immer in meinem Herzen bleiben. Aber meinst du nicht, ich habe es verdient, glücklich zu sein? Ein neues Leben zu beginnen? Ich habe über 10 Jahre lang getrauert. Sie würde es sich so wünschen, meinst du nicht?"

Seine Stimme war durchtränkt von Schmerz und uns beiden rannen leise Tränen aus den Augenwinkeln. Ich sammelte meine Gedanken und brachte die wichtigen Worte über meine Lippen.

„Es tut mir leid. Ich weiß, du tust das nicht um irgendwas zu beweisen, es ist nur schwer für mich. Aber ich werde schon klar kommen, mach dir mal keine Sorgen um mich. Und an die Tatsache, dass genau die Frau, die du dir aus den fast 8 Milliarden Menschen aussuchst, meine Lehrerin ist, wird ich mich wohl irgendwie gewöhnen müssen..."

„Danke, mi corazón... Du wirst sie hier auch nicht allzu oft sehen."

Mi corazón - mein Herz. Diesen Spitznamen hat er schon Jahre nicht mehr benutzt. Ich schloss ihn fest in meine Arme.

Einige Stunden später saß ich immer noch in meinem Bett und starrte gedankenverloren auf das eingerahmte Foto von Versus, dass in seinem weißen Rahmen auf meinem Nachttisch stand. Ich war nicht annähernd mit dieser Frau einverstanden, auch wenn ich so getan hatte. Für ihn. Ich grübelte noch lange über die Geschehnisse von heute und fühlte mich immer schlechter. Warum passierten immer nur mir solche dummen Sachen? Ich hab wohl nichts anderes verdient.

Erst als ich unter der heißen Dusche stand, bemerkte ich, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Doch der leere Hohlraum in meinem Magen passte perfekt zu der Leere in meinem Herzen.


Of Foxes and FailureWo Geschichten leben. Entdecke jetzt