Kapitel 20

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Mycroft hatte es sich in meinem Sessel bequem gemacht und trommelte mit seinen Fingern auf den Griff seines Regenschirmes, den er immer und überall dabeizuhaben schien.

Ich begrüßte Sherlocks Bruder und ging dann in die Küche, um Tee zu machen.
Wenigstens das wollte ich mir jetzt gönnen.
Mycrofts Besuch würde Sherlocks Laune definitiv nicht verbessern und eigentlich wollte ich mit Sherlock darüber sprechen, was im Krankenhaus mit ihm los gewesen war.
Schon die ganze Taxifahrt über wollte mir Sherlocks Gefühlsausbruch nicht aus dem Kopf gehen.
Auch mich hatte er damit verletzt, keine Frage, aber viel mehr beschäftigte mich die Tatsache, dass Sherlock geweint hatte.
Noch nie in unserer gemeinsamen Zeit hatte ich Sherlock weinen sehen.
Natürlich war Sherlock dazu in der Lage, ein paar Tränen am Tatort zu verdrücken, wenn er Informationen brauchte, aber das heute war etwas ganz Anderes gewesen.

Das Klicken des Wasserkochers holte mich zurück in die Wirklichkeit und ich brachte den fertigen Tee ins Wohnzimmer.
Sherlock hatte sich mittlerweile in seinem Sessel niedergelassen und durchbohrte Mycroft mit seinen Blicken.
Da ich nicht die ganze Zeit über stehen konnte, setzte ich mich auf das Sofa und als hätte Sherlock genau darauf gewartet, fing er an zu reden.

„Was willst du, Mycroft? Und fasse dich kurz, ich habe heute noch wichtigeres zu tun."
Mycroft räusperte sich.
„Nun, mein lieber Bruder, zuallererst wollte ich John meine Genesungswünsche aussprechen." Er sah zu mir herüber und nickte mir kurz zu.
„Danke", sagte ich und trank einen Schluck meines Tees.
„Und der zweite Grund meines Besuches sollte dir eigentlich klar sein, Sherlock. Ein neuer Feind ist auf der Bildfläche aufgetaucht und wir müssen entscheiden, wie wir vorgehen wollen", fuhr Mycroft fort.

„Wir?", fragte Sherlock und lehnte sich nach vorne. „Ich komme auch gut ohne deine Hilfe zurecht, Mycroft."
Eindringlich sah Mycroft seinen kleinen Bruder an.
„Hör auf, dich so kindisch zu verhalten, Sherlock. Dieser Jonathan ist weitaus gefährlicher als alles andere, mit dem du bereits zu tun hattest."
„Selbst gefährlicher als sein Bruder?"
„Selbst gefährlicher als sein Bruder", bestätigte Mycroft. „Jonathan hat einen gewaltigen Vorteil gegenüber Moriarty. Auch er hat Verbindungen in alle möglichen Teile der Welt und das verleiht ihm einen gewissen Teil an Macht, aber Jonathan weiß genau, wie er dich am meisten verletzen kann, Sherlock. Und er wird nicht zögern, diesen Trumpf zu nutzen, das weißt du. Das, was er mit John gemacht hat, war nur ein Test, um zu sehen, ob er so wirklich nah genug an dich herankommt. Was meinst du, warum er dich nicht gleich umgebracht hat?"

„Du erzählst mir hier nichts Neues, Mycroft. Und ich sage es dir noch einmal, ich brauche deine Hilfe nicht" zischte Sherlock.
„Darf ich eigentlich auch mitreden?", meldete ich mich zu Wort.
„Ich bin nicht wirklich scharf darauf, noch einmal massakriert zu werden, also würde ich ihre Hilfe sehr gerne annehmen, Mycroft."
Sherlocks Blick schnellte zu mir herüber und schien mich zu durchbohren, aber ich zuckte bloß leicht mit den Schultern.
Schließlich war nicht er derjenige, der gefoltert worden war.
„Sie werden ihre Entscheidung keinesfalls bereuen, John. Ich werde meine besten Leute darauf ansetzen, alles Mögliche über Jonathan Moriarty herauszufinden. Es muss etwas geben, dass er noch mehr möchte, als meinen Bruder tot zu sehen. Und wenn wir wissen, was das ist, dann können wir ihn stoppen."

Sherlock schüttelte den Kopf und sprang auf.
„Das ist zu einfach. Wenn er wirklich so schlau ist wie sein Bruder, dann ist das eine zu simple Methode, um ihn aufzuhalten."
„Dann lass dir etwas Besseres einfallen, Sherlock. Ich werde mich jetzt um die Umsetzung meines Plans kümmern. Ich lasse euch alle Informationen zukommen. Einen schönen Tag noch", verabschiedete sich Mycroft und erhob sich.

Kurz bevor er die Tür hinter sich schloss, rief Sherlock ihm noch hinterher: „Viel Spaß bei deinem Date mit George, Mycroft!"
„Wer ist George?", fragte ich.
„Lestrade", klärte Sherlock mich auf. „Die beiden gehen heute Abend zusammen essen."
Für einen kurzen Moment musste ich lächeln. Mittlerweile war ich fest davon überzeugt, dass Sherlock absichtlich falsche Vornamen benutzte. Es war doch nicht möglich, dass er einen so einfachen Namen wie „Greg" immer wieder vergaß. Apropos vergessen; Sherlock und ich hatten noch ein wichtiges Gespräch zu führen.

„Sag mal, Sherlock?", begann ich vorsichtig.
Von Sherlock erhielt ich ein Brummen als Antwort. Er saß wieder in seinem Sessel und tippte wie wild auf seinem Laptop herum.
„Sherlock, wir müssen reden."
„Müssen wir das?", wollte er wissen und sah zu mir herüber.
„Ja, das müssen wir. Sherlock, was ist da im Krankenhaus passiert? Du warst so... keine Ahnung, irgendwie komisch."
Sherlocks Blick verfinsterte sich.
„Gar nichts war mit mir los, John. Vergiss es einfach."

Er stand auf und ging in sein Schlafzimmer.
Ich ging ihm schnell hinterher und wollte verhindern, dass unser „Gespräch" so endete, aber an Sherlocks Zimmertür hörte ich, wie er den Schlüssel umdrehte und die Tür somit abschloss.
„Sherlock, das ist doch lächerlich! Mach die Tür auf. Sherlock?"
Ich klopfte mehrmals an, doch Sherlock antwortete nicht.
Ich blieb noch einige Minuten vor der Tür stehen, aber immer noch rührte sich nichts.
Ich seufzte schwer und ging zurück ins Wohnzimmer.
Das würden wir also ein anderes Mal klären müssen.

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