Teil 3

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Am nächsten Morgen stand meine Schwester im Zimmer und schrie. Sie schrie, als ich noch in Träumen lag, und sie schrie noch, als ich ihr dann endlich zuhörte. So als ob der Inhalt durch die Lautstärke besser von mir aufgenommen werden würde.

Ich sehe sie heute noch genau vor mir, ihre kurzen Haare, die ihr kreuz und quer vom Kopf standen, weil sie gerade aus dem Bett kam. Von diesem Bild gibt es in meiner Erinnerung verschiedene Variationen, Sara war oft sauer auf mich. Und immer, wenn ich mich an dieses Bild erinnere, denke ich auch an das Bild von mir als kleiner Junge, der auf dem Klodeckel im Bad sitzt und seiner großen Schwester zuguckt, wie sie ihre schönen Haare abschneidet. Damals war sie 17, ihr erster Freund hatte sie nach einem Jahr mit einer gemeinsamen Freundin betrogen. Sie war am Boden zerstört. Enttäuscht von der Männerwelt. Sie hatte damals lange schöne Haare, um die sie oft beneidet wurde. Doch nach diesem Ereignis sollte sich alles ändern. Sie hatte gelesen, dass in nordischen Völkern die Trauer der Frauen durch das Abbrennen der Haare zum Ausdruck gebracht wird. Und so griff sie kurz entschlossen zur Schere und schnitt sich alle ihre Haare ab. Seitdem schnitt sie ihre Haare immer selbst mit der Schere.

Ihr Gesicht war schon rot vom Schreien.

„Scheiße, hier sieht es aus! Alles total verdreckt!"

Und ich ahnte, was gleich kommen musste.

„Raus hier!"

„Sara, hör mir ..."

„Will, du verlässt sofort mein Haus! Ich brauche keine Erklärungen, keine Entschuldigungen und vor allem kein Betteln."

Sie war eindeutig im Vorteil. Es war ihr Haus. Ich hatte irgendwie auch ein bisschen übertrieben. Und sie stand im Türrahmen.

Schon seit meiner Geburt war meine Schwester fünf Jahre älter als ich. Und doch verbrachte ich viel Zeit mit Saras Freundinnen und Freunden. Wenn ich nicht mit dem Disney-Club unterwegs war, war ich bei ihrer Clique. Anfangs war ich wohl eher ein Klotz an Saras Bein. Was ich mir natürlich nicht eingestanden habe. Doch die Mädchen der Gruppe nahmen sich meiner an und so kam es, dass ich schon mit 12 Jahren eine Brust berührte, die nicht die meiner Mutter war. Ein Jahr später habe ich das erste Mal mit einem Mädchen geschlafen. Maja war vier Jahre älter als ich.

Da unsere Mutter arbeiten musste - sie war alleinerziehend, kurz nach meiner Geburt hatte der amerikanische Soldat seinen Heimweg ohne uns angetreten -, war ich oft mit meiner Schwester einkaufen. Wenn ich meiner Schwester gerade nicht auf den Wecker ging, verstanden wir uns zu diesem Zeitpunkt noch ziemlich gut. Sie las eine Sache vom Einkaufszettel vor, ich zählte bis drei und dann rannten wir beide los und versuchten, als erster den Gegenstand auf der Einkaufsliste zu finden. Wir waren mal wieder am Rennen und Suchen, als ich einem Freund meiner Schwester in die Arme lief.

„Hey Willi! Langsam!"

Lachend hielt er mich fest, weil ich schon wieder weiter wollte.

„Wo ist denn deine Schwester?"

Bevor ich antworten konnte, kam sie um die Ecke, mit dem gesuchten Käse. Außer Atem erzählte sie Lukas, worum es bei dem Spiel ging. Er wiederum erzählte, dass er am Wochenende feiern würde und ob Sara nicht vorbeikommen wolle. Dann sah er mich an. Zögerte.

„Du bist natürlich auch eingeladen, Will."

Er sah wieder meine Schwester an.

„Kommt ihr?"

Meine Schwester sagte irgendwas von wegen, sie wisse noch nicht. Aber ich stand hinter ihr und nickte heftig. Lukas grinste, zwinkerte mir zu und verabschiedete sich.

Ich brauchte meine Schwester nicht lange zu überreden, ich glaube, sie war verschossen in Lukas. Und so gingen wir auf diese Party. Als wir vor der Tür standen, zögerte meine Schwester. Ich lachte und legte ihr brüderlich den Arm um die Schulter, ich war größer als sie.

Das Leben ist ein Erdbeben und ich stehe neben dem TürrahmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt