Du weißt, dass ich versuchen werde dich zu töten?

36 3 0
                                    


Er wusste nicht, wie lange er schon vor der robusten, weißen Tür stand. Ein paar Sekunden? Minuten? Er hatte keine Ahnung. Für ihn fühlte es sich zumindest wie Stunden, wenn nicht schon wie Tage, an. Wie eine lange, andauernde, qualvolle Zeit, in der er nicht wusste, was er tun sollte. Wer er eigentlich war. Eine Flut an Gefühlen überwältigte ihn plötzlich und versuchte ihn unter sich  - unter ihrer Wucht – zu begraben. Und ihn dann nie wieder herauszulassen. Für immer und ewig. Er fühlte sich nicht normal und stark – so wie immer. Sondern schwach. Schwach, zerbrechlich und nutzlos. Und diese Gefühle befielen ihn jedes Mal, wenn er vor ihrer Zimmertür stand. Und für einen weiteren stillen Moment konnte er nur verzweifelt und zugleich hilflos denken, dass er gleich zusammenbrechen würde. Und tatsächlich sah man, dass sein ganzer Körper zitterte, nicht wusste, was er tun, wie er mit den brodelnden Gefühlen in seinem Innern zurechtkommen, sollte. Gleichzeitig verspürte er den heftigen Drang sich umzudrehen und einfach davonzulaufen. Wie ein kleiner, verängstigter Junge, welcher Angst vor dem Monster unter seinem Bett hatte und weinend zu seinen beschützenden Eltern lief. Er wusste, dass es feige sein würde und er ihr das nicht antun konnte. Nein, ihr nicht antun wollte. Er würde sich dann nur selber hassen, wegen dieses miesen und hinterhältigen Verrats. Ein Verrat, der in endgültig in den Abgrund ziehen würde. Ihn zerreißen und zerstören würde. Außerdem bedeutete sie ihm alles. Und so würde er auch alles für sie tun. Selbst dann noch, wenn es sein Leben kosten würde, denn man tut alles für diejenigen, die man liebt. Er zumindest würde sein Leben sofort für sie beenden, wenn es keine andere Möglichkeit geben würde – nur damit sie weiterleben kann. Und er würde es nicht bereuen, das wusste er ganz genau. Allein der Gedanke – die Tatsache – dass sie ein vernünftiges Leben, ohne Qual und Schmerz führen könnte, machte ihn unheimlich glücklich. Ein Leben ohne Tränen der Verzweiflung, die sie in der letzten Zeit nur noch hatte und auch nur ihm zeigte. Die Wut, die sie immer befiel und ihm dadurch unheimlich wehtat, machten ihn nutzlos und er hasste sich dafür, dass er ihr immer noch nicht geholfen hat. Sie immer noch leiden muss und das jeden Monat. Es sind zwar manchmal nur ein paar Tage, an denen sie dieses Leiden hat, aber diese einen Tage zerstörten ihr alles, was sie besaß. Was sie zu ihrer Person ausmachte. Sie ist nicht mehr die, die sie einmal war und dadurch hatte er sich auch verändert. Wurde kalt, abweisend und er würde somit über tausend Leichen gehen, wenn er etwas zu seinen Gunsten erledigen wollte. Zwar hatte er schon immer seine Gefühle nicht offen gezeigt, bei der Mutter, die er hatte, war dies aber auch kein Wunder. Nicht mal damals, als genau diese abscheuliche Person meinte, ihr kleines 'Geheimnis' mit Absicht und hinterhältigen Gedanken zu lüften und damit alles zu zerstören, was er bisher glaubte zu wissen, hatte er sich etwas ansehen lassen. Keine Gefühle. Nichts. Aber wenn er jetzt ehrlich zu sich selber ist, dann muss er sich eingestehen, dass er noch nie so einsam und verlassen, wie in diesem Moment war. Und noch nie hatte er sich so sehr danach gesehnt, seine Gefühle offen zu zeigen, sie ausbrechen zu lassen. Denn sie brodelten schon so lange in seinem 
Innern und schrien danach herausgelassen zu werden. 

Sie wird deine Unruhe, deine Trauer sofort mitbekommen, dachte er bitter, als er sich endlich dazu durchringen konnte die Hand zu heben und die Türklinke nach Unten runterzudrücken. Mit einem tiefen Seufzer öffnete er schließlich langsam die Tür und konnte gerade noch rechtzeitig seinen Kopf einziehen, bevor ihn eine Vase, die durch die Luft geschmissen wurde, hätte treffen können. Hinter sich konnte er hören, wie sie lautkrachend zersplitterte und in Millionen kleine Teilchen zerbrach. „Ich will niemanden sehen. Raus! Sofort!“, schrie eine weibliche, melodische Stimme wutentbrannt – zornig. „Nicht mal mich?“, fragte er sanft und trat einen Schritt in den Raum hinein. Nach einigen Sekunden in der eine Stille herrschte, in der man sogar eine Stecknadel hätte fallen hören können, sprang ihm ein schlankes, großes Mädchen mit langen, dunkelbraunen Haaren und blitzend grünen Augen entgegen. Flog ihn regelrecht in die Arme, umschlang ihn und drückte sich fest an ihn. „Was machst du denn hier?“, schluchzte sie beinahe und krallte sich mit ihren Fingern in seine Schultern fest. „Meine kleine, nervtötende Schwester besuchen, was denn sonst?“, lachte er rau auf und strich ihr sanft über die Haare. Diese zärtliche Geste brachte sie aufeinmal zum Weinen. Sie bebte regelrecht. „Nein, warum bist du gerade heute wiedergekommen?“, weinte sie leise und trommelte leicht mit ihren Fäusten gegen seine Brust. Es hatte etwas unheimlich Verzweifeltes an sich. „Warum denn nicht?“, erwiderte er nur und strich ihr dabei eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du weißt, was heute für ein Tag ist und du weißt auch, dass ich versuchen werde, dich zu töten und trotzdem kommst du immer wieder zu mir zurück. Warum?“, wimmerte das Mädchen. Sie hörte plötzlich auf damit auf seiner Brust herumzutrommeln und wischte sich stattdessen mit ihrer Hand über ihr tränennasses Gesicht. „Ja, diese Tatsache ist mir bewusst und ich komme damit klar. So wie immer.“, erklärte er weich und schenkte ihr ein breites Lächeln, welches lieb gemeint war. Man sah aber, dass dieses nicht echt war, denn in seinen Augen war ein Schmerz, der tief saß und dieser konnte nicht geheilt werden – nur wenn ein Wunder geschehen würde. Und an Wunder hatte er nie geglaubt. Immer musste er alles in die Hand nehmen. Das war schon immer so gewesen. Und es wird auch immer so sein. „Ich will dir nicht wehtun, aber genau das werde ich tun, wenn du mich heute Nacht wieder nicht alleine lässt. Geh bitte. Hör bitte nur einmal auf mich. Nur ein einziges Mal. Lass mich alleine.“, flehte sie mit brechender Stimme und schaute ihn mit glänzenden Augen an. „Nein, Amélie. Das werde ich nicht tun. Ich werde nicht zulassen, dass du dich quälst und dass du dir selber wehtust.“, erwiderte er nur nüchtern und ließ sie plötzlich los. Er bewegte sich sogar ein paar Schritte von ihr weg, obwohl es ihm widerstrebte, sie so weinend und zitternd alleine stehenzulassen. „Wieso tust du mir das an? Verstehe doch endlich…Es gibt kein Heilmittel. Es gibt keinen Ausweg…Keine Hoffnung.“, wisperte sie und schaute ihm lange in die Augen, bis sie schließlich nicht anders konnte und den Blick abwandte. Auf den Boden. „Wieso hast du damals nicht zugelassen, dass ich mich umbringe? Dann wäre es endlich vorbei. Ich müsste mich nicht mehr quälen und dich dazu auch noch. Ich sehe doch, wie du daran zerbrichst. Lass mich von dieser Welt gehen und lebe dein eigenes Leben.“, fügte sie schließlich leise hinzu – kaum hörbar. „Ich lasse nicht zu, dass du dich umbringst. Außerdem, wenn ich hinzufügen darf, weißt du ganz genau, dass es ein Heilmittel gibt. Und dieses werde ich dir besorgen, ob du willst oder nicht.“, knurrte er und schritt unruhig durch den Raum umher. Nur Amélie zeigte er seine Gefühle. Sie ist die Einzige, die immer zu ihm gehalten hatte. Egal, was er gemacht hatte. Mit einem zischenden zugleich erschrockenen Laut holte sie Luft und fragte ungläubig: „Das hast du nicht wirklich vor? Das kannst du nicht machen. Du weißt, was das bedeutet. Ich will das nicht. Nicht so. Ich werde nicht zulassen, dass wegen mir jemand zu Schaden kommt.“ Nach ihren Worten herrschte kurze Zeit Ruhe, bis er sie wieder durchbrach: „Ich werde wie gesagt, nicht mit reinem Gewissen verantworten, dass du elendig zu Grunde gehst. Du bist meine Schwester. Ich habe dir versprochen, dich immer zu beschützen. Mich immer um dich zu kümmern. Soetwas tut nun mal ein großer Bruder. Koste es, was es wolle.“ „Aber nicht so. Niemals! Bitte…“, sagte sie schluchzend und ging einige Schritte auf ihn zu. Wollte ihn am Arm packen, aber er wich ihr einfach aus und ging mit gemäßigten Schritt Richtung Tür. „Wenn du das wirklich tust, werde ich dir niemals verzeihen. Niemals. Und ich werde dich immer hassen. Dich immer verachten“, erklärte sie mit leerer Stimme. Als hätte sie sich in eine andere Welt geflüchtet oder vielleicht auch in einen Plan, mit dem sie das Ganze verhindern kann. Bei ihren Worten zuckte er leicht zusammen und drehte sich ein letztes Mal zu ihr, schaute ihr in die grünen Augen. „Ich weiß. Auch damit werde ich klarkommen müssen. Ich werde einen meiner Leute zu dir schicken, damit du keinen Versuch starten kannst und wieder versuchst dich umzubringen. Ich werde jetzt gehen und erst heute Abend wieder kommen, wenn es soweit ist. Dann hast du die Gelegenheit, deine Wut und deinen Hass an mir auszulassen.“ Nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, drehte er sich einfach um, verließ den Raum und schloss die Tür, mit einem Schlüssel, hinter sich ab. Kurz darauf hörte er, wie Schritte auf die Tür zukamen und an ihr heftig gerüttelt wurde. Einen weiteren Moment lauschte er vor ihr, hörte ihr leises Wimmern, ihr Betteln und ihr Flehen. Immer wieder vernahm er ihre Worte, die beinhalteten, er mache einen riesigen Fehler und er solle heute Abend nicht hier herkommen. Sie wolle ihm nicht wehtun – ihn verletzten. Es zerbrach ihm das Herz. Er wusste, dass er ihr wehtat, aber trotzdem konnte er nicht anders. Er musste diesen Weg gehen. Er musste es einfach tun, auch wenn sie ihn dann hassen würde. Er konnte nicht mehr mitansehen, wie sie litt. Er wollte doch nur, dass sie ein glückliches Leben führen kann. Hinzu kam aber, dass er sich auch hasste. Denn er handelte nicht nur für sie, sondern auch für sich selbst. Handelte egoistisch. Eine Tatsache war nämlich, dass er nicht noch den letzten Menschen auf der Welt verlieren wollte, der ihm etwas bedeutete und dabei war es ihm egal, was sie will. Ob sie mit dem Weg, den er eingeschlagen hatte, überhaupt einverstanden war. Nach einiger Zeit stand er immer noch da, wusste nicht, wie schnell die Zeit verging und dachte über das, was er im Inbegriff war zu tun, nach. Und wie schrecklich diese Tat sein würde.

Dunkel, wie die NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt