hoffnung.

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„Hannah?", frage ich. Sie ist gekommen. Sie ist hier. Mein Herz schlägt schnell. Die Dame, wie heißt sie noch gleich? Balduin? Seligmann? Fuck. Meier? Sie sieht erst zu mir und dann zu Hannah.

„Möchten Sie reinkommen?", fragt sie. Hannah ist blass. Sie zittert. Meine Kehle schnürt sich zu. Sie hat so Angst, so große Angst. Hannah sieht zum Ausgang, dann zu mir. Ich gehe einen Schritt auf sie zu. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

„Hannah, willst du?", frage ich vorsichtig. Nur noch ein Schritt, dann bin ich bei ihr. Fuck, ich darf es nicht zerstören. Sie ist so nah. Hannah atmet schnell. Ich stehe vor ihr.

„Du musst keine Angst haben", sage ich und nehme ihre Hand. Fuck, sie ist ganz kalt. „Dir kann nichts passieren", sage ich und sehe sie an. Ihre Augen sind glasig. Ihr hämmerndes Herz lässt ihre Tränen vibrieren. Sie atmet lange aus und schließt die Augen. Eine Träne löst sich und läuft an ihrer Wange entlang. Fuck.

„Okay", flüstert sie. Sie versucht zu lächeln, doch ihre Lippen zittern.

Okay? Okay! Ich ziehe sie an mich und lege meinen Arm um sie. Langsam gehen wir auf die Dame zu. Ich beuge mich zu Hannah und flüstere: „Ich bin stolz auf dich."

Ich weiß nicht, ob sie es hört, denn sie atmet schnell. Sie wirkt so zerbrechlich, so verletzt. Ich kann es gar nicht glauben. Sie ist hier. Und hier wird ihr geholfen.

„Ich bin hier, wenn du mich brauchst", sage ich und überlasse sie der Dame. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren. Hannah steht an der Türe. Sie wirkt wie ein scheues Reh. Ich schlucke. Wenn ich ihr doch ihre Angst nehmen könnte. Langsam fällt die Türe in Schloss. Hannah ist weg. Hannah ist in Sicherheit. Ich muss hier raus.

Ich gehe zum Ausgang und öffne die Türe. Ich bekomme eine Gänsehaut, im Schatten ist es kalt. Jetzt wird alles gut. Ich hole mir meine Zigaretten aus meiner Hosentasche. Fuck. Ich fühle mich, als wäre mir eine Last von den Schultern genommen worden. Ich fühle mich leichter. Ich halte die Flamme meines Feuerzeuges an die Zigarette und nehme einen tiefen Zug. Es war gut zu hören, dass ich richtig gehandelt habe. Dass ich sie angesprochen habe. Dass ich den Termin vereinbart habe. Dass ich sie hergebracht habe. Dass ich sie nicht gezwungen habe. Ich hatte so eine verdammte Angst.

Ich gehe in die Hocke, fahre mir mit meinen Händen durch die Haare. Ich sehe sie, wie sie auf meiner Couch sitzt. Gestern. Ich sehe ihren zitternden Körper. „Raphael, ich habe Angst." So oft hat sie das gestern gesagt. So oft. Sie hat gesagt, sie hat Angst vor dem Essen. Vor dem Zunehmen. „Ich versuche alles, aber ich kann meine Gedanken nicht mehr steuern. Ich schaffe es einfach nicht", hat sie gesagt. Sie hat so sehr geweint. So sehr. „Raphael, ich will, dass das aufhört. Ich habe das Gefühl zu fallen. Was ist das? Es reißt mich mit. Bitte, Raphael. Bitte halt mich fest". Fuck. Ich zittere. „Ich bin da", habe ich gesagt. Ich bin da. Fuck, ich wusste nicht, was ich sonst sagen soll. Das ist eine verdammte Scheiße. „Raphael, ich kann nicht mehr. Ich habe völlig die Kontrolle verloren. Über alles. Über mein Leben. Meine Gedanken. Mein Gewicht", hat sie gesagt. Jedes Wort war eine Qual. Ihr Schluchzen so laut. „Ich will nicht krank sein. Das macht alles kaputt". Fuck. Ich stehe auf und trete gegen einen verdammten Mülleimer. Er wackelt in der Verankerung.

„Sie sind ihr Partner. Sie können Sie nicht heilen. Und denken Sie bitte daran, dass es auch nicht Ihre Aufgabe ist, sie zu heilen. Sie haben eine andere Rolle. Sie können für sie da sein, Sie können sie auffangen wenn sie fällt. Mehr können Sie nicht tun, so leid es mir tut", hat die Dame gesagt. Ich habe richtig gehandelt. Ich hatte solche Angst. Ich zünde mir noch eine Zigarette an und nehme einen tiefen Zug. Meine Lungen füllen sich mit Rauch. Ich schließe meine Augen.

„Es gibt verschiedene Wege, ihrer Freundin zu helfen", hat die Dame gesagt, „doch das Wichtigste ist, dass sie versteht, dass sie krank ist. Und dass sie sich helfen lassen möchte. Sie sind schon auf einem guten Weg." Ja. Ja, das sind wir. Und jetzt ist sie in diesem Büro. Jetzt ist sie nicht mehr alleine. „Ihre Freundin kann eine Therapie ambulant beginnen. Sollte sich der Zustand ihrer Freundin in den nächsten Wochen verschlechtern, wird sie allerdings stationär behandelt werden müssen", hat sie gesagt. Stationär. Klinik. Desinfektionsmittel. Künstliches Licht. Krankheit. Tod. Tod. Tod. Mir wird schlecht. Ich schnippe meine Zigarette weg. Wenn Hannah hier wäre, würde sie jetzt bestimmt eine Augenbraue heben und sagen: „Raphael! Da drüben ist ein Aschenbecher!" Ich sehe den Aschenbecher an und grinse. Das mich sogar ein verdammter Aschenbecher an sie denken lässt.

Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare. Ich sehe eine Bewegung im Augenwinkel und drehe mich um. Die große Türe geht auf. Hannah. Ich gehe auf sie zu. Ihre Augen sind rot, sie ist blass. Doch sie lächelt leicht. Ja, sie lächelt. Das ist gut. Oder? Ist das gut?

Sie kommt auf mich zu und ich ziehe sie in meine Arme. Sie schmiegt sich an mich. Sie spricht nicht. Ich werde verrückt, wenn sie nicht gleich etwas sagt. Doch ich darf sie nicht drängen „Geben Sie ihr den Raum, den sie für sich braucht. Sie wird zu Ihnen kommen, wenn sie soweit ist". Ich hoffe, die Frau hat recht. Ich lege meinen Arm um Hannah und gehe mit ihr zu meinem Motorrad.

„Ich werde es versuchen", flüstert sie plötzlich. Mein Herz bleibt stehen. Sie macht eine Therapie?

„Ich bin stolz auf dich", sage ich und sehe sie an. Sie lächelt vorsichtig. Ich drücke sie an meine Brust und streiche über ihre Haare. Ihr Körper bebt, sie schluchzt. Ich schlucke. Verdammt, sie ist so zerbrechlich.


hold me tight.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt