Ich warte mehrere Minuten, bis schließlich meine Mutter im Gang auftaucht und mit einem strahlenden Lächeln auf die Tür zukommt. Binnen weniger Sekunden stehe ich im Gang und sehe mich verwirrt um. "Wo sind die Psy..die Anderen?", frage ich und meine Mutter grinst noch breiter, falls dies überhaupt noch möglich ist.

"Gruppentherapie", antwortet sie und sperrt die Türe von innen wieder zu. Eigentlich ist dieses Verhalten ziemlich krank. Die Patienten werden wie Massenmörder behandelt, die vom Rest der Welt weggesperrt werden müssen, um ihre Mitmenschen außer Gefahr zu bringen. Dabei wollen sie doch nur sterben, sie tragen weder eine gefährliche Seuche in sich, noch sind sie anderweitig eine Gefahr für andere Menschen, höchstens für sich selbst.

„Wieso ist es hier so still?", hake ich verwundert nach. Vielleicht war die heutige Übung ein 'How to kill yourself', um ihnen zu zeigen, wie es richtig geht und weitere Fehlversuche zu vermeiden, witzele ich innerlich und muss schließlich gegen meinen Willen schmunzeln. Eigentlich nicht gegen meinen Willen sondern gegen den meiner Mutter, die mich verwirrt anstarrt. Sie hat noch nie meinen tiefschwarzen Humor verstanden, weshalb ich meine Witzeleien für mich behalte.

„Um deine Frage zu beantworten, alle befinden sich im Gruppenraum, vielleicht deshalb. Apropos, da sollst du nach dem Umziehen auch hingehen", teilt sie mir mit und deutet auf den Umkleideraum. Ich nicke knapp und laufe los, um mir die ekelhaft grüne Scheiße anzuziehen. Ehrlich, die Dinger sehen schlimmer aus als die langen Shirts, die zurzeit in Massen produziert werden und jedem Typen bis zu den Knien reichen.

Seufzend ziehe ich mir das schürzenartige, hässliche Ding über und desinfiziere meine Hände. Ja, ich desinfiziere tatsächlich meine Hände. Vielleicht nicht unbedingt wegen der Hygiene, eher wegen den ausgesprochen beißenden Dämpfen. Und meine Chemielehrerin meint oft, dass man von Dämpfen high werden kann. Oh bitte lieber Gott, lass mich high werden. Einen Versuch ist es ja wert, oder vielleicht zwei. Oder drei. Selbst dann ist es hier unerträglich. Ist es überhaupt möglich von Desinfektionsmittel high zu werden? Ich sollte öfter in Chemie aufpassen, das ist es. Vielleicht sollten wir das nach den Ferien mal in Chemie ausprobieren, als experimentellen Selbstversuch.

Nach einem kurzen Blick in den Spiegel gehe ich zum Aufenthaltsraum. Mein leichtes Grinsen, welches sich bei meinen Gedanken an den Selbstversuch auf mein Gesicht geschlichen hat, verschwindet sofort. Leise öffne ich die Türe und trete ein. Wie im Kindergarten sitzen die 'suizidgefährdeten Jugendlichen' in einem Stuhlkreis und starren mich wie ein Weltwunder an. Ich habe zwar nie behauptet, dass ich keins bin, aber oh bitte Leute, wendet doch eure Blicke ab. Brillenschlange, du auch. Dir läuft ja schon Sabber am Mundwinkel runter! Ehw, das ist wirklich ekelhaft. Dich würde ich nicht knallen. Nicht mal, wenn du die letzte Hinterbliebene der weiblichen Spezies auf dieser Welt wärst.

„Ah Austin, komm rein!", sagt eine Schwester, ihren Namen habe ich schon längst vergessen, von gestern und winkt mich zu sich rüber. Im Stuhlkreis entdecke ich Mina, die mich angrinst als sie mich sieht. Ich hebe kurz meine Hand und deute eine Begrüßung an, während ich zu Miss Schwabbeldabbel laufe. „Das ist Austin, er wird hier einige Wochen aushelfen. Austin, wohin willst du dich setzen?", fragt sie übertrieben nett. „Eleana, neben mir ist noch ein Platz frei!", wirft eine mir allzu bekannte Stimme ein. Die Schwester schaut genervt zur Seite, zwingt sich aber wieder zu einem Lächeln. „Toll Mina, ganz toll. Setz dich, Austin."

Ich atme erleichtert aus und nach wenigen Schritten lasse ich mich den Stuhl neben Mina fallen. „Du hast mir das Leben gerettet", raune ich ihr zu und höre ihr leises Lachen. „Wieso so spät heute?"

„Meine Mutter hat mich ausschlafen lassen. Frag nicht wieso, ich habe selbst keine Ahnung, wieso sie auf einmal so gnädig ist", gebe ich zurück und sie nickt langsam, während sie sich nebenbei noch auf das Geschwafel von Eleana konzentriert. „Was machen wir hier?" Sie sieht mich schief von der Seite an. „Dafür, dass du jetzt hier arbeitest, bist du ziemlich schlecht informiert. Heute war die Psychologin da, danach gibt es immer eine Gruppentherapie. Einfach so, zum reden. Soll uns anscheinend helfen. Und danach kommen die Eltern oder anderer Besuch", erklärt sie mir flüsternd und ich sehe mich in der Gruppe um. Eine bestimmte Person fehlt und das würde auch die Ruhe erklären.

„Wo ist Savannah?" Ich bemerke noch das kurze Lächeln auf ihren Lippen, bevor sie antwortet. „Oh bitte, als ob ausgerechnet Savannah mit einer Psychologin reden würde, lebst du hinter dem Mond oder was? Eine Stunde hatten sie zusammen, ganz am Anfang kurz nach Savannahs Einweisung,  danach hat sich die arme Frau geschworen, nie wieder ihr Zimmer zu betreten. Eine Sitzung wird also von beiden Seiten verweigert. Und wegen den Besuchen, naja. Savannah wurde noch nie von irgendjemandem besucht."

Verwundert sehe ich sie an. „Wieso das?", hake ich nach und sie lacht verächtlich auf. „Oh man Austin, wir wissen es nicht. Keiner weiß es, weil keiner an sie rankommt. Sie ist wie ein anderer Planet und wir sind die kleinen Ameisen, die sie nur von der Erde aus betrachten können, mit dem Wissen, dass wir sie niemals erreichen werden."

SavannahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt