2.1 - Loreen

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Am nächsten Morgen erwachte Loreen verschwitzt und mit hämmerndem Herzen aus einer unruhigen Nacht. Immer wieder hatte sie von dem Gespräch mit Slash geträumt, seinen Andeutungen und komischen Fragen, die sie zu keiner Lösung gebracht hatten. Und heute früh wollten sich Slash, Pure und Sky heimlich mit ihr treffen, um ihr etwas zu erzählen, das sie betraf und ihr seit gestern Abend Magenschmerzen bereitete. Slah hatte sich etwas kryptisch ausgedrückt und wollte nicht viel sagen, sondern hatte nur darauf bestanden, dass sie kommen sollte. Ein heimliches Meeting unten im Garten, wenn sonntagmorgens noch alle Schüler schlafend in ihren Betten lagen. Letztlich hatte sie es ihm versprochen. Loreen wusste nicht, was schlimmer war: die Angst vor dem was sie erfahren würde oder das Warten.

In ihrem Zimmer stopfte sie sich schnell einen Müsliriegel in den Mund und zog ein schwarzes Shirt sowie ihren kuscheligen, dunkelblauen Lieblingspullover über. Nachdem sie ihre Haare gebändigt hatte, schlich sie leise durch die leeren, tristen Gänge, die aus grauen Linoleumböden und beige gestrichenen Wänden bestanden. Bald erreichte sie den Ausgang zum Garten und Loreen ließ die deprimierende Enge hinter sich zurück.

Der Morgentau schimmerte auf den Grashalmen und Baumblättern. Ein leichter Nebel lag über dem See und dem Abhang des Gartens. Unter der großen Eiche konnte sie drei Gestalten erkennen - an der gleichen Stelle, an der sie gestern über Slash gestolpert war. Als Loreen zu ihnen trat, lag eine nicht einzuordnende, kühle Stimmung über ihnen. Sie schob ihre Hände noch weiter in die Beuteltasche ihres Kapuzenpullovers. »Hallo. Ihr wolltet mit mir sprechen?«

Ein durcheinander geworfenes Gemurmel von »Hi« bis hin zu »Guten Morgen« ertönte, woraufhin wieder Stille einkehrte, bis Sky schließlich seine Hände ausbreitete. »Wollen wir uns hinpflanzen? Ich bin müde und ich denke, im Sitzen redet es sich leichter, bevor wir noch länger steif in der Gegend herum stehen.«

Ohne ein weiteres Wort ließen sie sich kollektiv auf dem feuchten Untergrund nieder und Loreen blickte ihnen erwartungsvoll entgegen. Alle drei machten ein ernstes Gesicht, was in Loreen alle Alarmglocken zum Schrillen brachte. Worauf hatte sie sich hier nur eingelassen? Aber hey, bei dem, was ich schon überstanden habe, kann nichts mehr passieren, dass mir noch den Boden unter den Füßen wegzieht, dachte Loreen verbittert. Sie biss sich auf die Unterlippe, bis sie das Schweigen nicht mehr aushielt. »Okay, was ist hier los? Warum lasst ihr mich in aller Herrgottsfrühe hierher kommen, um mich dann anzuschweigen? Slash hat gestern gesagt, dass er mir etwas über meine Familie, über meine Herkunft, erzählen will. Also bitte, raus mit der Sprache, ich halte das sonst keinen Moment länger aus.«

Gut, sie musste selber zugeben, dass sie mürrisch klang, wie ein trotziges Kind. Doch sie konnte instinktiv spüren, dass die Drei nicht diejenigen waren, für die sie sich ausgaben – sie waren sicherlich keine zwei normalen Lehrer und ein einfacher Schüler. Loreen war sich sicher, dass sie etwas Wichtiges verheimlichten oder wussten - etwas über sie. Auch wenn sie ihr keine Erklärung für den Tod ihrer Eltern würden geben können. Aber vielleicht konnten sie ihr nach so langer Zeit endlich etwas Greifbares zu ihrer Abstammung sagen. Es wäre ein Anfang. Alles war besser, als das momentane Dahinvegetieren - ein Leben ohne Plan, ohne Sinn.

Einem nach dem anderen blickte sie neugierig entgegen und blieb intuitiv bei Slash hängen. Es gab keinen bestimmten Grund dafür, aber er hatte etwas an sich, wodurch sie sich ihm verbunden fühlte. Nicht sein gutes Aussehen, sondern sein machtvolles Auftreten, die Kraft, die er versprühte und vor allem seine dunklen Augen, in denen manchmal, wenn er nicht aufpasste, ein tiefer Schmerz aufblitzte. Vielleicht wollte sie in seinem Blick auch nur etwas sehen, das sie selbst fühlte. Um nicht so alleine zu sein, sondern von jemandem verstanden zu werden. Oder vielleicht lag es an der Tatsache, dass er von den Dreien zuerst mit ihr gesprochen hatte. Sie wusste nicht, wie sie es erklären konnte, aber zwischen ihnen war etwas - das konnte sie nicht bestreiten.

In dem Moment richtete Slash seinen intensiven Blick auf Loreen. Es wirkte, als könne er ihre Gedanken spüren und dass sie ihn gerade unverhohlen angestarrt hatte. Statt zu antworten, riss Slash einige Grashalme aus und zupfte an seinem Pullover, als sei dieser ihm plötzlich zu eng.

»In Zeus' Namen, jetzt erklär es ihr endlich, Slash«, zischte Pure leise, aber Loreen konnte es trotzdem hören.

Slash schwieg noch einen Moment und strich sich über das Kinn. »Gut, ich sage es dir direkt.«

Er blickte ihr in die Augen und sie nickte, damit er fortfuhr. »Wir kommen nicht von hier, wir sind keine Lehrkräfte und Sky ist auch kein Schüler. Das ist unsere Tarnung.«

In der Stille, die folgte, sah sie ihn weiterhin unverwandt an. Die ›Enthüllung‹ war ehrlich gesagt nichts Neues, das hatte sie sich bisher alles selbst zusammenreimen können. Sie war zwar in Trauer, aber nicht blöd. Außerdem redete sie zurzeit nicht viel, sondern hörte zu. Und man konnte viele Dinge wahrnehmen und beobachten, wenn man ruhig im Hintergrund blieb. Slash seufzte, als fürchte er ihre Reaktion bei seinen nächsten Worten. »Glaubst du an übernatürliche Kräfte? Kannst du dir vorstellen, dass es auf der Welt mehr gibt, als normale Menschen, als ein normales Leben?«

Klar konnte sie das. Daher klang ihre Antwort ganz ruhig, als sie sagte: »Sicher. Ich denke, es gibt sehr viel mehr, als wir mit bloßem Auge sehen können.

Ihre Stimme war fest und sie meinte, was sie sagte. Verblüfft sogen Slash und Pure den Atem ein. »Das nimmst du einfach so hin?«, fragte Pure ungläubig. Als Loreen nickte, lächelte Sky schelmisch.

»Seht ihr, habe ich doch gesagt! Die Menschen sind gar nicht so skeptisch und verklemmt, wie alle immer behaupten. Ich finde Loreen cool. Außerdem gefallen mir ihre Haare«. Er zupfte an einer ihrer Strähnen, bevor er sich bequem auf die Seite lehnte und ausstreckte. Erneut versuchte Loreen es mit der direkten Art – sie war schon immer der Typ gewesen, der ein Pflaster schnell abriss, anstatt langsam das Unvermeidliche hinauszuzögern.

»Kommt schon, raus mit der Sprache – ich will alles wissen. Ihr könnt mich nicht so leicht erschrecken, nicht mehr. Glaubt mir.«

Slashs Stimme wurde eine Spur leiser. »Gut, wie du willst.«

Vielleicht hatte er Angst, dass sie belauscht wurden, auch wenn um diese frühe Stunde noch kein Mensch freiwillig durch den Garten wandern würde. Aber den Gedanken behielt Loreen für sich und wartete, dass er endlich sprach.

»Du bist kein normaler Mensch, so wie auch wir nicht. Wir gehören den ›Divinus-Kriegern‹ an. Kannst du Latein?«

Auf die Frage musste sie verneinend den Kopf schütteln.


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