Monroe
Man sollte meinen, dass es keinen Flecken Erde in Chicago gab, der je vollkommen in Dunkelheit getaucht wurde. Überall war der stets rasende Puls der Stadt in den pulsierenden Lichtern der Autos und den erleuchteten Fenstern der Häuser zu erkennen. Überall außer hier.
Die Laterne am Ende der Straße flackerte immer wieder in unregelmäßigen Abständen wie ein einsamer Soldat, der darum kämpfte, die Stellung in einem aussichtslosen Krieg zu halten. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund, gefolgt vom lauten Klappern des Drahtzaunes, als er sich davor warf. Reflexartig ballten sich meine Hände in meinen Jackentaschen zu Fäusten, während ich meinen Schritt beschleunigte. Meine Finger schlossen sich um das kalte Metall des Schlüsselbundes in meiner viel zu dünnen Jacke, als könnte ich mich damit irgendwie verteidigen, wenn dieser Hund – oder schlimmer noch ein anderer Mensch – plötzlich vor mir auf den Bürgersteig sprang.
Man sollte meinen, dass ich mich mit den Jahren an einen Ort wie diesen gewöhnen würde. Immerhin hatte ich Englewood nur ein einziges Mal in meinem Leben verlassen. Man sollte meinen, ich würde nicht mehr bei jedem Geräusch zusammen zucken. Man sollte meinen, ich hätte mich damit abgefunden früher oder später Teil irgendeiner Verbrechensstatistik zu werden.
Doch die Tür, die nur wenige Meter von mir entfernt im Schatten eines mir nur allzu bekannten Hauseingangs lag, erinnerte mich an meine Verantwortung. Sie erinnerte mich daran, dass ich eine Gefangene ohne jeglichen Ausweg war und dass all das meine eigene Schuld war.
Schnellen Schrittes huschte ich über den Gehweg und zog den Schlüssel bereits im Gehen hervor. Nachdem ich einen kurzen Blick über die Schulter geworfen hatte, drückte ich das löchrige Metalltor auf und hastete die letzten Meter bis zur Haustür.
Wie von selbst tasteten meine Finger das kalte Metall des verrosteten Briefkastens ab, dessen Schlüssel vor Jahren verloren gegangen war. Vorsichtig schob ich meine Finger in den Schlitz, um in dem Hohlraum das gewohnte, dicke Briefpapier zu ertasten, das Melrose ausnahmslos nutzte. Mein Herz hämmerte voller Vorfreude in meiner Brust als meine Fingerspitzen etwas streiften. Achtlos drehte und wendete ich meine Hand bis es mir gelang, sie ein Stück weiter in den Briefkasten zu schieben und den Briefumschlag mit Mittel- und Zeigefinger zu umschließen. Hastig zog ich ihn hervor und drückte ihn gegen meine Brust, während meine Schultern sackten und sich eine wohlige Wärme von meinem Herzen bis in den Rest meines Körpers ausbreitete.
In Gedanken daran, was meine Schwester geschrieben haben könnte, friemelte ich den Haustürschlüssel ins Schloss und schlüpfte durch die Eingangstür. Mit einem Klicken schloss ich sie von innen wieder ab, bevor ich den ersten Sicherheitsriegel und dann den Zweiten vorschob.
„Mom, ich bin zurück", rief ich in die dunkle Wohnung hinein, während ich die Schuhe achtlos abstreifte. Meine Jacke warf ich über den Esszimmerstuhl, der einsam vor dem runden Esstisch, der den Großteil des Wohnbereiches einnahm.
„Mom?", rief ich erneut, als keine Antwort von ihr kam, und legte den Brief widerwillig auf der ausgeklappten Couch ab, auf der meine Decke noch immer ungefaltet herumlag, während mein Kissen ganz auf den Fliesen gelandet war.
Als erneut keine Antwort kam, setzte ich meinen Weg durch den kleinen Flur fort. Das Einzige weitere Zimmer lag im Dunkeln, doch aus dem Bad konnte ich stetiges Wasserrauschen vernehmen. Meine Socken rutschten auf den Fliesen als ich abrupt zum Stehen kam. Das Wasser war zu laut, als dass es sich um den Wasserhahn handeln könnte. Eine ungute Vorahnung packte mich mit eiskalten Händen und mir jagte ein Schauer über den Rücken.
Meine Hände schlossen sich wie von selbst um die Klinke und ohne darüber nachzudenken, stieß ich die Tür auf. Der Anblick, der dahinter auf mich wartete, ließ mir das Herz in die Hose rutschten. Wasser durchnässte meine Socken, doch ich nahm die Kälte kaum wahr, als ich vorwärts stürmte und der Frau, die in diesem Moment so wenig mit meiner Mutter zu tun hatte, die Flasche aus der Hand zu reißen versuchte. Mit eisernem Griff hielt meine Mutter daran fest, während das Wasser ungebremst auf uns herab prasselte.
„Mom!", stieß ich verzweifelt aus, bevor es mir gelang, ihr die Flasche endlich abzuringen und das Wasser abzustellen.
„Monroe?", meine Mutter blinzelte immer wieder langsam, als müsste sie mit ihren Augen darum kämpfen, mich zu erkennen. Während das eiskalte Wasser meine Haut wie tausend Nadeln durchstach, schien sie nichts davon mitzubekommen. Ich traute mich gar nicht daran zu denken, wie lange sie so bereits hier gesessen hatte. Wenn ihre blau anlaufenden Lippen ein Indikator war, musste es länger gewesen sein, als mir lieb war.
„Komm, Mom", meine Stimme nahm einen autoritären Tonfall an, als ich ihre dünnen Arme mit beiden Händen umgriff.
„Nein, warte, Monny", lallte sie langgezogen, als ich Anstalten machte ihre aus der Badewanne zu helfen.
„Nein, Mom. Du musst da jetzt raus", erwiderte ich mit klarer Stimme: "Du kommst da jetzt raus."
Dieses Mal leistete sie keinen Widerstand, als ich sie regelrecht aus eigener Kraft aus der Wanne hievte. Ihre Füße platschten laut in der Pfütze auf dem Boden, als ich meine Arme um sie schlang, um ihre Knie davor zu bewahren, unter ihr wegzuknicken. So gerne ich auch behauptet hätte, dass ich sie noch nie so vorgefunden hatte, würde ich mich damit nur selbst belügen. Im Nachhinein tat es ihr immer leid und sie versprach mir, eine bessere Mutter zu sein. Manchmal gelang es ihr, am nächsten Tag sich zusammenzureißen. Manchmal nicht. Früher oder später legten sich die alten Muster jedoch immer wieder wie Handschellen um meine Handgelenke und fesselten mich an dieses Leben.
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Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, meine Mutter in trockener Kleidung ins Bett zu verfrachten und den Badezimmerboden zu trocknen. Als ich endlich das Schnarchen meiner Mutter vernahm, erlaubte ich mir, mein Kissen vom Wohnzimmerboden aufzuheben und auf der Couch unter die Decke zu schlüpfen. Meine Knie schmerzten vom Knien auf den Fliesen und meine Hände brannten vom Putzmittel, das ich gebraucht hatte, um den ausgekippten Alkohol loszuwerden.
All das trat in den Hintergrund als ich mein Telefon hervorzog. Das Display war zwar beinahe vollkommen gesplittert, doch die Taschenlampe funktionierte noch. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Brief hervorzog, auf den ich seit einer Woche gewartet hatte. Das elfenbeinweiße Papier trug neben dem gewohntes Poststempel ein rotes Wachssiegel in der Mitte. Melrose hielt es für lächerlich versnobt, dass unser Vater ein eigenes Wachssiegel besaß. Für mich gehörte es zu ihren Briefen genauso wie ihre geschwungene Schrift auf dem Papier, gegen die meine unförmig und krakelig wirkte.
Zum ersten Mal an diesem üblich beschissenen Tag schlich sich ein kleines Lächeln auf meinen Lippen als ich ihre Nachricht hervorzog und auseinanderfaltete. Wir schrieben uns Briefe seit wir vor Jahren zum ersten Mal voneinander erfahren hatten, doch das hier könnte mit Abstand der Wichtigste sein.
Beim letzten Mal hatte sie davon gesprochen, mit mir zusammen irgendwo neu anzufangen und ich hatte, untypisch träumerisch, unter der Voraussetzung, dass sie einen Plan hatte, zugestimmt. Nun womöglich ihre Ideen für eine gemeinsame Zukunft mit meiner Schwester in den Händen zu halten, war unwirklich.
Zitternd atmete ich ein und senkte den Blick auf die Worte, die sie mir hinterlassen hatte. Dass nur ein paar wenige kryptische Zeilen auf mich warten würden, hatte ich nicht erwartet. Und dass die Erste genug sein würde, um mein Leben für immer zu verändern, erst recht nicht.
"Wenn du diesen Brief liest, werde ich wahrscheinlich längst tot sein".
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Darling, Undone
Romance"Wenn du diesen Brief liest, werde ich wahrscheinlich längst tot sein". Zuerst halte ich den Brief meiner Schwester für einen schlechten Scherz. Doch als wenig später die Einladung zu ihrer Beerdigung in meinen Händen liegt, weiß ich, was ich tun m...
