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Kapitel 1* Ankunft
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»Kinder, ich muss euch was sagen«, begann meine Mutter zu sprechen, nachdem mein Bruder und ich in unserem Wohnzimmer saßen.

»Wir werden nach Neah Bay zu euren Großeltern ziehen«, sagte sie und lächelte.

Dieses Lächeln war traurig und fröhlich zugleich.

»Aber Mom, New York ist doch total schön«, jammerte ich.

»June, du brauchst es gar nicht versuchen«, warnte sie mich.

Bockig verschränkte ich die Arme vor der Brust und rutschte auf dem Stuhl weiter nach unten.

»Es ist doch nicht nur wegen Oma und Opa«, dachte ich laut und sie warf mir einen scharfen Blick zu.

Das sollte wohl dann heißen, dass ich den Mund halten sollte. Ich wusste genau, dass es auch wegen Steve, einem alten Freund von ihr, war.

»Geht jetzt bitte packen, unser Flug geht schon in zwei Tagen.«

Innerlich tobte ein Sturm in mir, aber gegen meine Mutter kam ich eh nicht an. Zwei Tage und ich durfte in einem kleinen, trostlosen Ort in Washington leben. Ich musste meine ganzen Freunde zurücklassen und hatte nicht mal Zeit, mich richtig von ihnen zu verabschieden. Wie sollte ich es nur aushalten, mit meinen Großeltern und meiner Mutter zusammen in einem Haus? Ich konnte mir vor meinem inneren Auge jetzt schon die aller peinlichsten Momente vorstellen. Das darf alles nicht wahr sein. Kann mich bitte irgendjemand aus diesem schrecklichen Traum wecken? Voller Selbstmitleid lief ich in mein Zimmer und kramte meinen Koffer unter dem Bett hervor. Am Ende war mein komplettes Zimmer in einem Koffer und einer Reisetasche verstaut.

Die zwei Tage waren wie im Flug vergangen, und da ich nicht auf Verabschiedungen stand, schrieb ich all meinen Freunden eine Stunde vor der Abreise, dass ich umzog. Natürlich waren alle entsetzt und meinten, sie würden mich besuchen, doch ich kannte sie und wusste, dass sie das nicht tun würden. Verständlich, wer geht auch schon freiwillig an einen Ort, wo es kaum Handyemfang gab und nur Wald.

»June jetzt beeil dich doch mal, der Flieger geht gleich los«, hetzte mich meine Mutter.

Genervt verdrehte ich die Augen und lief etwas schneller. Im Flieger saß ich zwischen meiner Mutter und Lucas, meinem sechs jährigen Bruder. War ja klar, dass er am Fenster sitzen durfte.

»Halt das mal bitte«, sagte meine Mutter.

Sie drückte mir ihre Wasserflasche, die sie bestellt hatte, in die Hand und lief anscheinend auf die Toilette. Mein Bruder sah erstaunt aus dem Fenster und saß unruhig auf seinem Platz.

»Danke Spätzchen.«

»Mom! Du weißt genau, dass ich es nicht mag, wenn du mich so nennst«, meckerte ich.

»Und, dass ist mir so was von egal«, lächelte sie.

Nach ein paar Stunden landete der Flieger endlich. Wir warteten auf unser Gepäck und liefen zum Ausgang, als ich sie schon sah. Meine Großeltern standen winkend und breit grinsend mit einem Schild in der Hand am Ausgang. Auf dem Schild stand unser Name. Familie Wain.

»Hallo Mom, Dad«, sagte meine Mutter und umarmte die beiden.

»Hallo Oma«, sagte ich und lächelte unschuldig.

Sie zog mich in ihre Arme und der Geruch von alten Menschen stieg mir in die Nase.

»Mensch Kind, du bist ja so dünn, isst du überhaupt etwas«, sagte Oma und begutachtete mich.

»Ja«, gab ich als Antwort und begrüßte meinen Opa.

Nachdem wir uns nun alle begrüßt hatten, stiegen wir ins Auto. Ich hatte ja gehofft, meine Mutter würde fahren, aber nein, Oma setzte sich ans Steuer.

»Ach Odette, es ist so schön, dass ihr nun doch hierher zieht«, sagte Oma fröhlich.

Meine Mom hieß Odette. Ich sah aus dem Fenster und entdeckte einen grauen Himmel. Daran musste ich mich wohl noch gewöhnen. Nach einer halben Stunde kam das Auto vor einem alten, großen Haus zum stehen. Ich war lange nicht mehr hier gewesen. Als meine Oma mal angerufen hatte, hatte sie erzählt, dass sie neue Nachbarn hatten. Ich konnte nur hoffen, dass diese einigermaßen nett und normal waren.

»June meine Süße, der Nachbarsjunge wird dir gefallen«, sagte Oma und grinste mich durch den Rückspiegel an.

»Ach Judith, lass das Kind doch mal in Ruhe«, mischte sich mein Opa ein.

Na das konnte ja was werden! Ich grinste nur kurz und sah dann aus dem Fenster. Wald, nichts außer Wald. Kann mich bitte jemand wieder nach New York bringen?! Nach einer Stunde kamen wir vor dem Haus zum stehen. Es war ziemlich groß, genau wie das der Nachbarn. Ich stieg aus und richtete erstmal meine Sachen. Das letzte Mal war ich hier, als ich acht war. Mal sehen, wie viel sich verändert hat.

Mein Engel und IchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt