Kapitel 39

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Defnes Sicht

"Annem, babam." (Meine Mutter, mein Vater.)

Langsam streichelte mit meiner Hand die Erde und versuchte mich zu beruhigen.

"Ich habe euch so vermisst."

Meine Stimme versagte.

"Es ist so vieles passiert seitdem ihr gegangen seid."

Ich schniefte und atmete tief durch.

"Anne bak. Ich habe einen Freund. Kızarmıydın sen bana hayatta olsaydın baba?" (Mama schau. Würdest du auf mich sauer sein, wenn du am Leben wärst Vater?)

Ömer stand ein paar Meter weiter weg von mir und sah mich an, während ich zwischen den zwei Gräbern saß. Ich wischte meine Tränen weg und versuchte nicht weiter zu weinen, was mir etwas gelang. Es war schwer, aber es ging.

"Schaut, da steht er. Mein Bruder und Fatih abi haben zu viel gekämpft, aber Ömer hat es geschafft baba. Du wolltest meinen zukünftigen Mann ja testen. Das haben mein Bruder und Cousin übernommen." (Vater)

Ich lächelte.

"Annem keine Sorge. Du kennst seine Mutter. Meltem teyze ist es. Ich bin in guten Händen." (Meine Mutter)

Die Tränen kamen wieder hoch und meine Sicht verschwamm.

"Anne. Anne ich kann nicht mehr! Anne was soll ich an meiner Henna Abend machen? Soll ich ohne dich weinen? Und du baba? Du müsstest mich doch an meiner Hochzeit Ömer überreichen!" (Mama, Vater)

Ich schlug auf den Boden und schrie. Es war zu viel für mich! Ich hatte sie so vermisst! Was sollte ich den Rest meines Lebens machen? Ömer kam auf mich zu und kniete sich neben mich hin. Er nahm mich in seine Arme.

"Anne ben belki çocuk sahibi olamayacağım." (Mama ich werde vielleicht keine Kinder bekommen.)

Ich flüsterte. Mir kam es so vor, als hätte ich keine Stimme mehr. Als könnte ich nicht mehr reden. Ich konnte einfach nicht mehr.

"Daha kesin değilki Defnem." (Es ist doch noch nicht sicher.)

Er ging an meinem Rücken hoch und runter. Ich drehte meinen Gesicht zu Ömers Brust und weinte mich aus. Zum Glück hatte ich den Spray bevor ich aus dem Haus ging eingenommen, sonst wären wir gerade bestimmt im Krankenhaus.

"Ich kann nicht mehr Ömer."

Er umarmte mich so fest er konnte und küsste mich am Kopf.

"Ich bin bei dir Defnem. Alles wird gut."

Ich schüttelte meinen Kopf. Die Tränen liefen immer wieder meiner Wange entlang.

"Ömer ich bin allein. Ich bin einsam. Kına gecemde annem olmayacak! Babam beni düğünümde sana vermeyecek! Ömer ben annem ile babamı istiyorum!" (An meiner Henna Abend wird meine Mutter nicht da sein! Mein Vater wird mich an meiner Hochzeit dir nicht überreichen! Ich will meine Mutter und meinen Vater!)

Ich wollte doch nur meine Eltern bei mir haben. War das zu viel verlangt?

"Okay das reicht."

Er löste sich von mir und stand auf. Ich sah gar nicht hoch, denn ich hatte nicht vor, den Friedhof zu verlassen. Ömer packte mich plötzlich und ich landete auf seiner Schulter. Er lief los. Ich wollte aber hier bleiben!

"Ömer! Ömer lass mich los! Ömer!"

Ich schlug ihm fest auf seinen Rücken, doch es sah nicht so aus, als würde er mich loslassen wollen.

"Ömer ich will bei meinen Eltern bleiben! Verdammt Ömer!"

Ich weinte und schrie Ömer an, doch er ließ mich nicht los.

Zehn Minuten später hatte ich keine Kraft mehr. Keine Kraft mehr zu weinen, zu schreien, mich zu wehren. Einfach für nichts mehr. Ömer lief immer noch mit mir auf seiner Schulter. Wohin hatte ich keine Ahnung.

Wie würdet ihr einen Henna Abend und eine Hochzeit ohne euren Eltern vorstellen? Wie würdet ihr überhaupt die Verlobung vorstellen ohne euren Vater? Stellt euch das doch mal vor: Ihr habt keinen Vater. Ein Junge will mit euch heiraten. Am Tage der Verlobung fragt der Vater des Jungen nicht euren Vater, sondern eure Mutter. Bis dahin würde euch niemand beschützen! Was, wenn der Junge mit euch spielt? Euch verarscht? Ihr würdet es doch sehen wollen, dass der Junge trotz der Drohungen des Vaters um euch kämpft. Etwas vor ihm Angst hat.
Und wie stellt ihr euch euren Henna Abend ohne eure Mutter vor? Ohne sie zu weinen? Ohne sie zu umarmen? Ohne ihr zu sagen, dass ihr sie vermissen werdet?
Und die Hochzeit ohne Mutter und Vater? So was war nicht leicht zum vorstellen!

Und wie sollte ich so etwas durchmachen? Verlobung war okay. Ich konnte noch damitleben. Aber Henna Abend und Hochzeit?

"Ömer lütfen." (bitte)

Eine Träne fiel auf dem Boden. Mein Herz tat weh. Es tat so krass weh!

"Defnem."

Er seufzte und ließ mich runter. Meine Schultern packend sah er mir tief in die Augen.

"Hör auf dich fertig zu machen! Ich weiß, es ist schwer. Ich kenne dieses Gefühl doch genauso! Aber bitte! Du tust mir damit weh Defne! Kalbim acıyor benim, sen ağlayınca." (Mein Herz tut weh, wenn du weinst.)

Tränen sammelten sich wieder.

"Ich musste immer stark sein Ömer! Ich halte es nicht aus. Wegen dieser Krankheit konnte ich nicht mal richtig weinen! Lass mich wenigstens weinen, wenn ich es kann."

Meine Beine versagten.

"Ich will meine Eltern! Meine Eltern!"

Ich schlug immer wieder auf den Boden. Ich war wütend. Wütend auf meinem Leben. Auf das Schicksal. Auf das alles, weshalb meine Eltern nicht mehr hier waren.
Wieder umarmte mich Ömer und ich schloss meine Augen, während die Tränen weiterflossen.
Ich war dankbar, dass er hier war. Dass er gekommen ist, obwohl ich es nicht wollte. Dass er bei mir war.

"Danke."

Defne & ÖmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt