Kapitel 12

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Der Samstag entpuppte sich als ausgesprochen sonniger Tag. Während des gestrigen Spa-Abends war ich überzeugt worden, das Mysterium um die Morde für eine Weile ruhen zu lassen und das Wetter zu genießen. Mit diesem Ziel im Kopf hatte ich einem Spaziergang über das Gelände zugestimmt, als Avna und Lysander vom Frühstück zurückgekommen waren.

Müßig wanderten wir über das wildwachsende Gras, bis wir einen schattigen Platz unter einer knorrigen Eiche fanden. Ohne viel Federlesen ließen wir uns darunter plumpsen und ich zog ein paar Arbeitsblätter für Artenlehre aus meiner Tasche, dankbar, dass ich an sie gedacht hatte, während Avna und Lysander über irgendeinen Unsinn zu diskutieren begannen. Es gab keinen Kurs, in dem ich die Aufmerksamkeit des Lehrers mehr fürchtete als in Artenlehre; Roman wurde nicht überdrüssig, mich als Beispiel heranzuziehen, wenn er etwas über die Nachtalben erklärte. Zuerst hatte ich gedacht, dass ich viele Ungenauigkeiten und Mythen ertragen müsste, aber er wusste, wovon er sprach. Solange ich also den Mund hielt und mich davon abhalten konnte, die Sekunden zu zählen, waren die Stunden auszuhalten.

Der verpasste Stoff, den ich nachholen musste, stellte eine größere Herausforderung dar; es war eine beträchtliche Menge, wenn man alle Kurse zusammennahm. Inzwischen bezweifelte ich, dass ich innerhalb des Semesters damit fertig werden könnte. Immer öfter kuschelte ich mich abends mit geliehenen Büchern ins Bett, um den Stapel der Arbeitszettel, die nur darauf warteten nach Gutdünken von mir vollgekritzelt zu werden, endlich schrumpfen zu lassen.

Erst als ich das dritte Blatt ausgefüllt hatte, fiel mir auf, dass sich Arden nicht zu uns aufs Gras gesetzt hatte. Stattdessen stand er, steif an den Stamm der Eiche gelehnt, im Abseits und ließ seinen Blick über die Hügel gleiten.

Ich richtete mich kurzerhand auf den Knien auf und zupfte an seinem weißen Pullover. „Stehst du bequem?"

Das Wochenende galt nicht nur für uns, wie es aussah. Anstelle seines Anzugs war Arden heute Morgen nach seinem täglichen Ausflug in den Personaltrakt in Jeans und brauner Herbstjacke wiedergekommen. Dennoch hatte sich sein emotionsloser Ausdruck nicht verändert, als er den Kopf auf meine Frage hin neigte.

„Hast du Angst vor Grasflecken?", zog ich ihn lächelnd auf, doch er erwiderte mein Lächeln nur knapp.

„Danke, aber es ist vermutlich besser, wenn ich mich nicht zu euch setze. Zu viele Augen."

„Ich will dich nicht zwingen, aber es ist nicht gerade angenehm, wenn du über uns aufragst wie ein lebendiger Wachturm."

Ich begegnete dem belustigten Blick von Avna und verdrehte die Augen. Sie lachte leise hinter ihrem Buch, sodass nur ich es sehen konnte. An unseren Aufpasser war diese Vorsichtsmaßnahme verschwendet, denn er schien mit den Gedanken woanders zu sein. Ohne Interesse daran, sich an unserem Gespräch zu beteiligen, lehnte er am Baumstamm, die Hände vor sich verschränkt. Vermutlich wäre er außer Hörweite, wenn Avna und Lysander sich leise mit mir unterhielten, und ich fragte mich, ob er uns die Illusion von Privatsphäre bieten wollte.

Als ich mein Tagespensum an Aufgaben erledigt hatte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Avna aalte sich glücklich in der warmen Sonne, während Lysander mit dem Schatten der Blätter wanderte. Mit der Zeit hatten sich mehr und mehr Schüler auf der Wiese ausgebreitet, um das Wetter auszunutzen, und keine zehn Meter von uns entfernt saß eine andere Gruppe an Studenten.

„Normalerweise ist diese Wiese leer", merkte Avna, die das Kinn auf die Handballen gestützt hatte und Leute beobachtete, an.

„Die haben nichts Besseres zu tun", vermutete Lysander. „Weil die Akademie abgeriegelt ist, können sie nicht mehr in die Stadt und Besuch bekommen sie auch keinen."

Ich tat es den beiden gleich und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Über den hügeligen Rasen waren kleine Baumgruppen verteilt, die einen vor der schlimmsten Mittagssonne schützen konnten, und wo das Akademiegelände in einen leichten Mischwald überging, ragte eine alte Steinmauer in die Höhe.

Die Akademie der Lichtalben - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt