Kapitel 5 - Eine grüne Ankunft ✅

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Mein Herz klopfte wie verrückt, als sich das gigantische Schlosstor öffnete. Gleich würde der erste richtige Schritt in mein neues Leben getan werden. Dafür musste ich bloß über die Türschwelle treten.

Claire drückte mit einem breiten Lächeln im Gesicht meine Hand. Im Gegensatz zu mir schien sie überhaupt nicht nervös zu sein. Tatsächlich sah sie so aus, als würde sie einfach nur an diesen Ort zurückkehren und als wäre sie nicht, wie alle, die hier standen, neu. Auch alle anderen schienen genau wie ich den Atem angehalten zu haben. Zeitgleich traten wir als geschlossene Gruppe durch das Tor. Alle waren aufgeregt. Manche tuschelten, rieben sich unauffällig die schweißnassen Hände an der Hose ab oder schwiegen angespannt.

Sobald wir durch die Tür traten, gelangten wir in eine Empfangshalle. Die Halle war gewaltig! So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Bestimmt war allein diese Halle größer als das Haus, in dem Hanne und ich lebten.

Die Decke war unglaublich hoch und leicht gewölbt. Wenn man nach oben blickte, konnte man kunstvolle Malereien erblicken. Diese zeigten verschiedene Szenen. Von wunderschönen Landschaften bis hin zu geschichtlichen Ereignissen war alles dabei. Allerdings erkannte ich die dort dargestellten geschichtlichen Ereignisse nicht. Das lag aber vermutlich daran, dass diese sich auf die Geschichte der Elementare bezogen. Ich konnte Frauen in weißen Kleidern und mit geschlossenen Augen sehen, die ihre Hände einladend geöffnet hatten. Malerisches Feuer umhüllte sie und ließ sie wie Göttinnen wirken.

An einer anderen Stelle war ein Mann in mittelalterlicher Kleidung zu sehen, der in einem Wald neben einer leblosen Person kniete und seine Hand auf ihre Stirn gelegt hatte. Jedoch schien seine Hand golden zu leuchten. Aufgrund dieser Szene musste ich an Hanne denken. Laut ihr, konnten Erdelementare heilen. Und dieses Bild an der Decke ließ diese Kraft ziemlich beeindruckend wirken.

Allerdings erblickte ich auch Szenen von Schlachten, in denen diese ganzen Elementarkräfte ziemlich furchterregend erschienen. Erneut musste ich daran denken, dass diese Leute - die Elementare - ohne große Schwierigkeiten bekommen konnten, was sie wollten. Und sei es die Herrschaft über die Welt. All das Grauen, das sie hervorbringen könnten ... Und ich gehörte zu ihnen. So unglaublich es auch klang.

Es kostete mich einiges an Kraft, meinen Blick von der Deckenmalerei zu nehmen. Doch ich bemerkte, dass es nicht nur mir so ging. So gut wie alle anderen der Neuankömmlinge starrte gebannt auf das Kunstwerk über unseren Köpfen. Bloß Claire schien davon nicht beeindruckt zu sein. Mit einem selbstsicheren Lächeln musterte sie die Frau, die mitten in der riesigen Halle stand und uns geduldig betrachtete. Sie war mittelgroß und schaute sympathisch aus. Ihr leicht angegrautes Haar hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Auf ihrer Kleidung war ein Wappen zu sehen. Es war ein kleiner vier geteilter Kreis, in dem die vier Elemente abgebildet waren. Was mich ein wenig verwunderte war, dass für das Element Luft das Grüne im Wappen stand.

Neugierig stupste ich Claire an. Sofort löste sie ihren Blick von der Frau und sah zu mir.
»Grün steht im Wappen für Luft, oder?«, fragte ich sie im Flüsterton. Sie nickte bestätigend.
»Überraschend, nicht?«, sagte sie grinsend und sie war sofort wieder in ihrem Element. »Aber die Luft wird hier nicht als weiß oder durchsichtig dargestellt. Luft bedeutet Leben. Ohne Luft würden wir, wie auch die Tiere sterben und Pflanzen brauchen ebenfalls Luft und Wind. Ihre Pollen fliegen umher und neue Pflanzen entstehen. Luft ist also mit der Natur sehr verbunden und steht auch für das Leben. Deshalb wird die Luft, oder auch der Wind, grün dargestellt.« Stolz grinste sie mich an. Ihr war anzusehen, dass sie ihr Element liebte. Aber so, wie sie es mir erklärt hatte, hatte sie auch allen Grund, stolz zu sein. Es wäre sicherlich wünschenswert, das Element Luft zu beherrschen.

Schwermütig unterdrückte ich ein Seufzen. Es war unwahrscheinlich, dass Luft auch mein Element war, wenn ich an die Fähigkeit dachte, die sich mir bereits gezeigt hatte. Und erneut musste ich daran denken, dass man bei mir vielleicht einen Fehler gemacht hatte. Was, wenn die Fähigkeit, die sich bereits gezeigt hatte, alles war, zu dem ich im Stande war? Gehörte ich dann noch hier her? Genauso gut hätte ich Zuhause bleiben können.
Anscheinend war die Frau nun der Auffassung, dass alle die Deckenmalerei lange genug bewundert hatten, denn sie räusperte sich und zog somit alle Aufmerksamkeit auf sich. Erschrocken rissen manche ihren Blick von der Kunst und schienen die Frau auch erst jetzt zu bemerken. Einige erröteten beschämt, als hätte sie man bei etwas Verbotenem erwischt. Nun lagen alle Augen auf ihr. Doch die Frau lächelte einfach nur wohlwollend.
»Herzlich Willkommen auf dem Elementar Internat!«, grüßte sie uns mit freundlich strahlenden Augen. »Es freut mich, euch nun endlich persönlich kennenzulernen! Ich bin eure Direktorin, Agatha Johnson. Oder kurz: A.J. Ich hatte euch die Briefe geschickt.« Sie machte eine kurze Pause, um uns Neuankömmlinge einmal zu mustern. »Jetzt werde ich euch erst einmal euren Zimmern zuweisen. Diese sind nach den Elementen eingeteilt: Vier Elemente, also auch vier Schlossflügel. Den Nord-, Ost-, Süd- und Westflügel.«, sagte Miss Johnson. »Die Luftelementare kommen in den Nordflügel, die Feuerelementare in den Südflügel, die Erdelementare in den Westflügel und die Wasserelementare in den Ostflügel. Wenn ihr aufgeteilt auf euren Zimmern seid, liegen da eure Schulsachen. Mädchen- und Jungenschlafräume sind getrennt und ihr dürft jeweils nicht in den anderen Flur. - Allerdings haben wir ein Problem.« Die Direktorin verstummte. Ihr Blick glitt suchend durch die Menge. Jeden Einzelnen von uns betrachtete sie kurz. Ich hatte sogleich ein mieses Gefühl. Wenn die Zimmer nach den Elementen eingeteilt wurden, war ganz sicher ich dieses »Problem«, von dem sie gesprochen hatte. Es sei denn, sie wusste mehr als ich über mein Element.

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