Der Mond warf sein Licht auf den Boden seiner Zelle, und sein Schatten spiegelte sich dort wider. Er sah hinaus in die Dunkelheit, als er hinter sich ein Räuspern hörte.
„Grigor?"
Es war die Stimme einer jungen Frau. Er kannte sie – und er mochte sie nicht.
„Hörst du mich?"
Langsam drehte er sich um. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Es war genau die Frau, an die er gedacht hatte: Aurora Tenebris, die Schulleiterin der Akademie, stand vor seiner Zellentür.
„So begegnet man sich also wieder." Seine Stimme klang heiser.
„Ich bin gekommen, um dich zu bitten, wieder an die Schule zurückzukehren", flüsterte sie.
Er überging ihren Satz.
„Wie sind Sie hereingekommen? Diese Zelle wird stark bewacht."
„Ich selbst habe den Zauber über sie gelegt, damit du nicht ausbrechen kannst, Grigor."
Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg.
„Dann sind Sie schuld daran, dass ich mein Element nicht benutzen kann und man mir Panthera weggenommen hat?"
„Du bist sehr mächtig, Grigor. Kein Gefängnis für Normalsterbliche würde dich wirklich gefangen halten. Du musst lernen, deine Macht zu kontrollieren – ebenso wie dein Tier. Du hättest die Kraft, dir die Welt zum Untertan zu machen, und ich habe keinerlei Zweifel, dass du es auch tun würdest, wenn du könntest."
Er sog ihre Worte in sich auf und lächelte hinterhältig. Sie war verzweifelt – er wusste es. Und sie lieferte ihm wertvolle Informationen.
„In jedem Elementträger gibt es eine gute und eine böse Seite. Deshalb gibt es unsere Akademie: Wir wecken eure gute Seite und machen sie so stark, dass ihr eure böse unter Kontrolle halten könnt. Ihr sollt den Menschen und der Welt mit euren Fähigkeiten helfen – nicht sie zerstören!"
„Ich nehme an, ich soll alle Lebensmittel gedeihen lassen, die Lawinen stoppen, die in Schneelandschaften tagtäglich niedergehen und Dörfer zerstören, und eine Art universeller Problemlöser sein? Nein, danke. Ich habe kein Interesse!" Er entgegnete spöttisch.
Er wandte sich um und blickte wieder in die Nacht hinaus, wohlwissend, dass seine einzige Chance, jemals aus dieser Zelle herauszukommen, direkt vor der Gittertür stand.
„Ihr müsst nicht die Naturkatastrophen aufhalten. Ihr sollt keine Hilfsarbeiter mit besonderen Fähigkeiten sein. Ihr sollt lediglich verhindern, dass die Welt ins Chaos gestürzt wird! Natürlich ist es brillant, wenn ihr Initiative ergreift und handfeste Probleme anpackt – aber damit meine ich verbale oder politische Probleme."
„Wo ist Panthera?", fragte er.
„Sie ist an einem sicheren Ort untergebracht."
„Angenommen, ich käme mit in die Akademie – kommt sie mit? Darf ich sie dann wieder bei mir haben?"
Sie zögerte kurz, ehe sie antwortete.
„Du wirst keine Chance haben, mit ihr einfach abzuhauen und das zu tun, was du möglicherweise die ganze Zeit planst."
„Wie kommen Sie darauf, dass ich abhauen würde?"
„Weil ich dich kenne, Grigor. Ich habe dich fast ein halbes Jahr unterrichtet."
Er überlegte. Er musste ihr Vertrauen gewinnen – nur so konnte er fliehen.
„Gut, ich komme wieder an die Akademie. Aber nur unter der Voraussetzung, dass ich Panthera zurückbekomme und nicht irgendwo eingesperrt werde. Ich mag es nicht, wenn man mich wie etwas Ekelhaftes behandelt, dessen Fähigkeiten man unterbinden will – so, wie die Menschen es immer mit mir gemacht haben."
„Ich verstehe, dass du ihnen deshalb nicht wohlgesinnt bist. Aber du darfst das nicht persönlich nehmen. Sie haben einfach nur Angst vor Personen, die sie mit einem Fingerschnippen beherrschen könnten."
„Ich soll es also nicht persönlich nehmen, wenn sie versuchen, mich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen? Wenn sie mich mit altmodischen Foltermethoden umbringen wollen? Ich soll einfach sagen: ‚Macht euer Ding, ich verstehe das, ich weiß, dass ihr Angst habt, weil ich euch ohne Mühe hier und jetzt töten könnte – also bitte, tötet mich ruhig, dann geht es euch besser!'?"
Seine Stimme wurde lauter, während er tief in sich drinnen seine Wut auflodern spürte.
„So meine ich das doch gar nicht!" Die Verzweiflung in ihrer Stimme verschaffte ihm ein befriedigendes Gefühl, und er merkte, wie seine Kräfte stärker wurden.
„Die Elementträger müssen den Menschen zeigen, dass sie keine Bedrohung sind! Ihr seid keine Bestien – ihr seid Wunder! Ihr seid ebenso Mensch wie diejenigen ohne Element. Es ist eine Gabe, kein Fluch!"
Er nahm ihre Worte kaum noch wahr.
„Wenn ihr den Menschen helft, anstatt sie zu tyrannisieren, werden sie euch akzeptieren. Sie werden sogar froh sein, dass es euch gibt. Aber mit Gewalt werdet ihr das nie erreichen."
„Haben Sie die anderen Elemente schon aufgespürt?"
„Es fehlt nur noch das Feuer."
„Dann lassen Sie mich endlich hier raus!"
„Kommst du wieder in die Akademie?"
„Ich komme wieder – aber ich will anständig behandelt werden."
Er bemühte sich, glaubwürdig zu klingen, obwohl er natürlich nicht eine Sekunde ernsthaft in Erwägung zog, wirklich zurückzukehren. So gut er konnte, hielt er den Zorn in seiner Stimme zurück, um überzeugend zu wirken.
„Ich werde den Bann von der Zelle lösen, aber dich sicherheitshalber mit einem Schutzzauber belegen, damit dir während der Fahrt nichts geschieht."
Sie hob ihre Arme, und er spürte, wie der Bann von ihm abfiel. Freiheit.
Er grinste. Es war ihm gelungen. Nach mehr als einem Jahr hatte er es geschafft.
Bevor die Direktorin reagieren konnte, hob er die Arme zum Himmel und schrie laut, während er sie langsam nach unten senkte.
Zuerst bröckelten einzelne Steine aus der Mauer. Dann wurden es mehr und mehr, bis das Gebäude schließlich in sich zusammenstürzte. Unter seinem Willen formten sich die Trümmer zu einer gewaltigen Kugel.
Er grinste seine Direktorin an, die ihm fassungslos zu Füßen lag.
Der Einsturz des Turms hatte dazu geführt, dass die Wächter unter den herabfallenden Steinen begraben worden waren.
„Sie können mich nicht aufhalten! Das haben Sie doch nicht ernsthaft geglaubt?"
Ein kaltes Lachen entkam ihm, während er den riesigen Steinbrocken über der am Boden liegenden Frau schweben ließ.
Dann pfiff er.
Ein großer, schwarzer Panther tauchte aus den Schatten auf und rannte auf ihn zu. Zufrieden schnurrte er, als er seinen Herrn sah.
Grigor schwang sich auf den Rücken des Tieres und betrachtete die hilflose Lehrerin.
„Man wird Sie an der Schule vermissen. Es wird sicher nicht einfach, einen Ersatz für Sie zu finden. Adieu!"
Und damit ließ er den Steinbrocken fallen, drehte sich um – und verschwand mit seinem Panther in der Dunkelheit.
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Ilvermorny - Der Kampf um die Elemente
Fantasy„Aber glaubt mir, dass man Glück und Zuversicht selbst in Zeiten der Dunkelheit zu finden vermag. Man darf bloß nicht vergessen, ein Licht leuchten zu lassen." Mitten im verlassenen Weisstannental in der Schweiz, von den umliegenden Bergen gut gesch...
