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Die kalte Novemberluft schnitt wie ein Messer durch die Straßen von Hamburg, als Luisa sich durch die Menschenmenge drängte. Ihre Hand umklammerte fest die ihres kleinen Bruders Jacob, während sie verzweifelt versuchte, ihn vor den drängenden Massen zu schützen. Plötzlich durchdrang ein ohrenbetäubendes Dröhnen die Luft, gefolgt von einem grellen Blitz am Himmel. Luisa erstarrte, als sie den Schatten eines herannahenden Fliegers über sich sah. Der Krieg war nicht länger nur eine entfernte Bedrohung - er war direkt vor ihrer Haustür angekommen. Die Menschen wurden nun noch panischer und Luisa hielt Jacob sehr fest an sich gepresst, sodass er nicht verloren gehen konnte. Die zwei kleinen Koffer und die Tasche mit dem Essen waren ihr in der Menge schon längst abhanden gegangen. Das war Luisa im Moment aber nicht wichtig. Ihre einzige Priorität war es, den kleinen Jacob, der sich nun ängstlich an sie klammerte und anfing zu weinen, zu beschützen. Mit einem Ruck hob Luisa ihren kleinen Bruder hoch und versuchte sich einen Weg durch die Menschen zu bahnen. Bevor die Flieger gekommen waren, patrolierten Soldaten auf den Straßen, um den Menschen mitzuteilen, dass sie umgehend das Nötigste einpacken sollen und sich auf den Weg nach Westen machen sollten, da sich feindliche Truppen näherten. Luisa lebte mit ihrem gerade einmal zwei Jahre alten Bruder in einer kleinen Wohnung in Hamburg. Sie hatte schnell alles zusammengepackt und war auf dem Weg zum Bahnhof, wie alle anderen, um zu fliehen. Doch nun, da die feindlichen Flieger schon aufgetaucht waren und die schrillen Sirenen angingen, gerieten alle in Panik. Polizisten und Soldaten versuchten zugleich die Menge zu beruhigen und schrien gegen den Lärm, dass sich alle umgehend zu den Luftschutzbunkern begeben sollten. Luisa fühlte sich völlig überfordert. Sie war von recht schmaler Statue und nicht gerade groß. Ständig bekam sie Ellenbogen in die Seiten und ins Gesicht, Leute rempelten sie an, der kleine Jacob schrie jetzt direkt neben ihrem Ohr und die Sirenen heulten immer noch. Luisa wurde von der Menge in irgendeine Richtung gezogen. Ihre Augen füllten sich nun auch langsam mit Tränen, doch das Schicksal war heute anscheinend gnädig mit ihr, denn sie sah, wie die Menge sie direkt zu einem der größeren Luftschutzbunkern getrieben hatte. Ein paar Soldaten standen vor dem Eingang und riefen hecktisch: "Frauen und Kinder zuerst! Schneller!" Einer der Männer packte Luisa unsanft an den Schultern und schob sie durch den Eingang. "Na los, mach schon! Und geh bis nach ganz hinten durch, damit jeder Platz hat!" Luisa, die immer noch Jacob fest umklammert hielt, nickte und lief bis zum Ende des Bunkers. Hinter ihr und neben ihr liefen Frauen und viele Kinder. Viele andere kleine Kinder weinten und man hörte ein paar Frauen, die weiter hinten standen, hysterisch schreien: "Mein Mann! Mein Mann ist noch da draußen!" Doch sie wurden unsanft von den anderen mitgerissen und konnten nichts dagegen tun. Ein wenig später war der Bunker komplett voll. Niemand konnte sich mehr so richtig bewegen. Man konnte Schluchzten von Erwachsenen und Kindern hören. Ein paar Leute hatten sich dicht an die Wände geschmiegt und umklammerten die letzten Taschen, die sie noch bei sich trugen. Viele Ehepaare saßen dicht zusammen und hielten einander bei den Händen. Wieder andere saßen kniend in den Ecken und beteten leise. Von draußen konnte man gedämpft das Dröhnen der Flieger hören. Manchmal hörte man ein dumpfes Geräusch, wenn eine Bombe einschlug. Manchmal rieselte auch ein wenig Staub von der Decke. Luisa saß neben einem großen Rohr, das an der Wand entlang führte. Es gehörte wahrscheinlich zu einer Heizung, denn es war warm und man konnte leise Wasser hindurch gluckern hören. Jacob saß auf Luisas Schoß. Mittlerweile hatte er aufgehört zu schreien, doch er schluchzte immer noch leise. Luisa strich ihm sanft über den Kopf. Dann nahm sie ihren Schal ab und wickelte ihren kleinen Bruder darin ein. Es war recht kalt hier unten und schließlich hatten sie erst November. Jacob wurde nun immer leiser. Nach ein paar Minuten schlief er schließlich ein. 'Er muss erschöpft sein, vom vielen Schreien.', dachte Luisa. So langsam wurde ihr selbst allerdings kalt. Sie versuchte, sich näher an das Rohr in der Wand zu drücken, doch es brachte nicht viel. Nach einer Weile kam eine ältere Dame auf sie zu. Sie hatte eine Tasche in der Hand, die mit Decken vollgestopf war. Die Dame zog eine etwas unsauber gestrickte Wolldecke hervor und hielt sie Luisa hin. "Hier meine Liebe, nimm eine Decke für dich und den Kleinen.", sagte sie sanft. Luisa lächelte und nahm die Decke. "Vielen Dank.", erwiederte sie leise. Die Dame nickte ihr zu und schlurfte dann weiter. Luisa zog die Wolldecke über sich und Jacob und lehnte sich an die Wand. Draußen konnte man immer noch leise die Sirenen und Flieger hören, doch Luisa merkte, dass sie selbst plötzlich auch sehr müde wurde. Sie gähnte und lehnte ihren Kopf leicht an den von Jacob. Binnen Sekunden war sie auch schon eingeschlafen.

Schließlich wurde sie aufgeweckt, weil jemand halb über ihre Beine stolperte. Sie schlug die Augen auf. Die Menschen sahen so aus, als würden sie alles einpacken und sich bereit zum Aufbruch machen. "Was...Was ist den los?", murmelte sie benommen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand, sah sehr erleichtert aus. "Sie haben Entwarnung gegeben. Wir können endlich wieder nach draußen.", sagte sie. Luisa fiel ein Stein vom Herzen. 'Oh Gott sei Dank', dachte sie. Plötzlich durchfuhr sie ein kleiner Schock. Sie sah auf ihren Schoß. Jacob war nicht mehr dort. Er war auch nicht neben ihr. Wie vom Blitz getroffen stand Luisa auf und sah sich panisch um. "Jacob?!", schrie sie. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und ihre Augen füllten sich automatisch mit Tränen. "Jacob, Wo bist du?!", rief sie. Mit Grauen erfüllt sah sie sich um. Alle Menschen liefen durcheinander. Luisas Kopf füllte sich sogleich mit allen Möglichen schrecklichen Szenarien, was mit Jacob passiert sein könnte. Sie stürmte los und drängelte sich durch die Menge. Sie rief immer wieder nach ihm und fragte unzählige Leute, ob sie einen zweijährigen Jungen mit dunklem Haar und einem Braunen Strampler gesehen hatten. Verzweifelt drängte sich Luisa zwischen den Menschen umher und hielt Ausschau nach Jacob. Schließlich sah sie ein paar Männer am Eingang stehen. Einer von ihnen stand auf einem kleinen Schemel und hielt ein kleines Mädchen hoch. "Wem gehört dieses Kind?", schrie er in die Menge. Hinter dem Mann standen noch ein paar anderen Kinder, die wahrscheinlich auch ihre Eltern im Getümmel verloren hatten. Die Mutter des Mädchens kam gerade herbeigeeilt und schloss es glücklich in die Arme. Als nächstes hielt der Mann ein Baby hoch. Es hatte dunkles Haar und einen braunen Strampler an. "Zu wem gehört dieses Kind?", brüllte der Mann wieder. "Jacob!", schrie Luisa überglücklich und drängte sich nach vorne. Sie holte ihren kleinen Bruder von dem Mann ab und drückte ihn fest an sich. Eine Welle von Erleichterung überkam sie und sie fing wieder an zu weinen. Diesmal aber vor Glück. Jacob neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Er schien nicht wirklich zu verstehen, was gerade vor sich gegangen war. Immer noch zitternd machte sich Luisa nun auf, um den Bunker zu verlassen. Die schwere Eisentür war noch zu, doch nach ein paar Minuten wurde sie geöffnet. Die Freude Jacob wiederzuhaben, verschwand mit einem Schlag wieder aus Luisas Herzen. Allen anderen ging es anscheinend genauso. Als die Tür geöffnet wurde, kam eine Wolke von Staub herein. Dieser Staub kam von Trümmern. Da, wo einst Häuser gestanden hatten, lagen nur noch zerbrochene Steine. Nur ein paar Pfosten einiger Häuser standen noch. Überreste von kaputten Möbeln lagen auch herum. Die ersten Menschen hatten sich wider gefasst und schritten nun langsam nach draußen. Luisa tat es ihnen gleich. Vor ihnen lag ein Bild totaler Zerstörung. An manchen Ecken brannten die hölzernen Überreste mancher Häuser. Einige Gebäude standen sogar noch halbwegs. Sie hatten nur einige Löcher oder herumtergekommende Dächer. Auf den Gehwegen, die übersäht mit Kratern waren, lag haufenweise Schutt. Luisa musste husten. Der Staub kitzelte in den Lungen. Alle Menschen standen nun da. Die Schrecken des Krieges lagen vor ihnen, ein düsteres Erbe, das sie mit Trauer erfüllte und den Weg in eine ungewisse Zukunft wies.

                           ⊹ ࣪ ˖ 𓇢𓆸 ⊹ ࣪ ˖ 

Die Dunkelheit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt