22. CanisMinor15 • Jeden Tag geschehen Wunder

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J E D E N   T A G
G E S C H E H E N   W U N D E R

CanisMinor15

Prolog
Dez. 2019

Ich liebte Bahnhöfe. Sie symbolisierten für mich die Trauer in den Augen der Menschen, wenn sie sich am Gleis verabschiedeten und ein letztes Mal umarmten. Aber auch die pure Freude, die auf den Gesichtern zweier Menschen zu sehen war, die sich wiedersahen und wie Verrückte um den Hals fielen. Bahnhöfe zählten zu den Orten, an denen man am meisten Liebe finden kann – denn auch, wenn der Abschied von Tränen begleitet wird, weiß man, dass ein Wiedersehen folgen wird.

Bahn fahren war für mich nichts Neues, doch diesmal war es anders. Nach der Trennung meiner Eltern vor exakt zwei Monaten würde ich meine ganzen Winterferien nun bei meinem Vater verbringen, der in einem viel zu kleinen, unbekannten Kaff, zu dem es nicht einmal eine direkte Busverbindung gab, eine Mietwohnung hatte. Mama hatte mich noch vor der Arbeit zum Bahnhof gebracht und mich hektisch zum passenden Gleis begleitet.

An Mamas Hand geklammert, hatte meine kleine Schwester mich mit großen Augen angestarrt. Sie zurückzulassen, tat mir am meisten weh, sie war schließlich erst acht und meine liebste Spielkameradin. Am Bahnsteig folgten eine letzte Umarmung und die traurigen Worte meiner Mutter: „Wir sehen uns ja schon im Januar wieder, Cay, du wirst sehen, dass die Zeit wie im Flug vergeht“.

Das hatte ich stark zu bezweifeln gewagt, doch nichts gesagt, auch nicht, als sie in Tränen ausgebrochen war. Während ich zu dem Zug, in dem ich meine nächsten Stunden verbringen hatte dürfen, gelaufen war, war ich noch einmal stehengeblieben, um zu ihr zurückzublicken. Zu dieser Frau im cremefarbenen Hosenanzug, mit den völlig zerzausten honigblonden Haaren, die sie vorhin noch schnell zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Zerrissen war sie dagestanden, weinend, doch zugleich stolz, so unfassbar stolz auf mich. Ich hatte es an ihren Blicken gesehen. Meine Augen hatte ich ein letztes Mal auf Alice gerichtet, die danebenstand und gar nicht zu verstehen schien, warum Mama weinte. Dann war ich eingestiegen, hatte mir einen leeren Platz gesucht und die Musik eingestöpselt. „Secret“ von One Republik lief, während Mama Alice auf ihre Arme gehoben und die beiden mir gewunken hatten, die ganze Zeit über, bis der Zug abfuhr. Eigentlich war ich längst zu groß für so etwas, mit elf musste man schließlich keine Angst vorm alleine reisen mehr haben und alleine zum Bahnsteig gefunden hätte ich auch.  Doch für Mama würde ich immer der kleine, hilflose Junge bleiben, der ich einmal gewesen war.

Stunden später hatte die Bahn an meiner Station gehalten und ich war ausgestiegen und hatte mich skeptisch umgeschaut. Der Ankunftsbahnhof war lächerlich klein, mit gerade mal einem Gleis und einer längst kaputten Leuchttafel, auf der die Worte: „Zug 24798 um 12:45 Uhr fällt heute aus“ standen, denn die Lichter des „ä“ und des letzten „s“ flackerten nur noch unregelmäßig, wodurch sie regelrecht von dem schwarzen Hintergrund der Tafel verschluckt wurden.

Dann hatte ich auf den Bus gewartet, der mich in Papas Kaff bringen sollte. Am Ende war dieser jedoch ausgefallen, weshalb ich fast zwei Stunden auf einen nächsten Bus, der in dieselbe Richtung fuhr, warten und danach noch einmal eine Stunde nachhause laufen durfte. Es hatte zwischendurch angefangen zu regnen, aber ich hatte mir gesagt, so sei das Wetter auf dem Land eben und beschlossen, mich darüber nicht aufzuregen. Es hätte sowieso nichts gebracht.

Pa hatte sich eine kleine Wohnung gemietet, gleich am Ortsanfang neben der Straße. Häufig befahren sah diese allerdings nicht aus, und wenn ich ehrlich war, hatte ich während meiner Ankunft hier auch noch kein einziges Auto gesehen. Dafür wesentlich mehr Traktoren, die in Richtung der dicht bewachsenen Nadelbäume getuckert waren.

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