E I N W E I H N A C H T S W U N D E R
F Ü R M A R G I T ?Knorrig ragen die Äste in den bleigrauen Himmel empor. Ein düsterer, spätherbstlicher Tag, passend zu Margits Stimmung. Mit herabhängenden Schultern wendet sie sich vom Fenster ab und setzt sich an ihren Schreibtisch. Sie öffnet die schmale Schublade und holt eine Kladde hervor. Halb in ihren Gedanken versunken öffnet sie diese und beginnt zu schreiben.
04.12.
Liebes Tagebuch,
seit mein Mann Andreas die Diagnose Krebs bekommen hat, geht es ihm immer schlechter. Er ist doch erst Mitte vierzig und steht in der Blüte seines Lebens!
Wir haben dieses Jahr die Schokoladenfabrik meiner Familie mit einem hohen Kredit saniert. Wie sollen wir das denn abzahlen, wenn ... Ich mag gar nicht daran denken. Wenn Andreas mal nicht mehr ist, wenn er den Krebs nicht besiegt?
Eigentlich wollten wir meinen Vater zu uns holen. Der Arzt sagt, seine Demenz schreitet stark voran. Er kann nicht mehr allein wohnen. Aber ein Altersheim?
Wenn du glaubst, liebes Tagebuch, dass wenigstens unsere vierzehnjährige Tochter uns Freude bereitet, dann täuschst du dich. Erst heute früh rief mich die Schulsekretärin an, dass es wohl einen Konflikt im Religionsunterricht gegeben habe. Ich weiß ja, dass die Jugendlichen heutzutage nichts mehr von Kirche halten und alles für überholt und altmodisch abtun. Trotzdem sollte Kerstin sich ein klein wenig an Regeln halten und Respekt zeigen. Da hilft mir all das Gerede von pubertärer Trotzphase gar nichts.
Sie hat eine Muslimin angegriffen, weil diese gesagt hat, auch die christliche Maria habe ein Kopftuch getragen, warum immer die Kopfbedeckung bei den Muslimen negativ bewertet werde. Kerstin wurde handgreiflich, als sie ihre Meinung vertreten hat, dass in der heutigen Zeit eine Kopfbedeckung die freie Selbstbestimmung einschränke.
Ich kann sie ja verstehen. Dass verheiratete jüdische Frauen und muslimische Frauen ab der Pubertät ihr Haar bedecken müssen, ja sogar einige christliche Glaubensgemeinschaften verlangen, dass verheiratete Frauen ihr Haar bedecken, klingt schon veraltet. Dennoch müssen wir die Meinung anderer Menschen respektieren und auch ihre religiöse Einstellung tolerieren. Eine sachliche Diskussion mag angemessen sein, doch gleich stoßen und schubsen? Ein Mitschüler behauptet sogar, Kerstin habe die muslimische Mitschülerin ins Gesicht gespuckt!
Nur noch zweiundzwanzig Tage bis Weihnachten. Doch Weihnachtsstimmung kommt in unserer Familie so gar keine auf. Ich weiß auch nicht, wie ich das ändern könnte.
Deine Margit
Seufzend klappt sie das Büchlein zu und verstaut es zurück in die Schublade. Sie hofft, dass der morgige Tag besser wird. Irgendwo muss doch ein Lichtblick sein. Es ist Adventszeit, die Vorbereitungszeit auf Weihnachten. Wozu so ein wunderschönes Familienfest als Erinnerung feiern, wenn es bei einem selbst nur bergab geht?
05.12.
Liebes Tagebuch,
habe ich mich gestern beschwert?
Da wusste ich noch nicht, was heute passiert.
Mein Mann ist wie jeden Tag in die Fabrik gegangen. Ich weiß ja, dass er sie nur meiner Familie zuliebe leitet. Früher, bevor mein Vater körperlich und geistig abbaute, war mein Mann sehr zufrieden für eine Gebäudereinigung tätig. Er hat sich vom einfachen Buchhalter bis zum Gebietsleiter hochgearbeitet. Manchmal überlege ich, ob es wirklich richtig war, dass er das aufgegeben hat. Schokolade war nie seine Welt. Die steht nicht einmal auf seinem Speiseplan. Es war immer klar, dass mein Bruder die Firma von Vater übernimmt.

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Wichtel-Adventskalender 2023
Short StoryWeihnachtszeit ist die schönste Zeit! Und ein Adventskalender darf in der Lounge natürlich auch nicht fehlen! Fast zwei Monate hat unsere Community fleißig geschrieben, hat eine Herausforderung angenommen, die ihnen das Schreiben ein wenig spannende...