Zwölf Uhr Mittag

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Die Glocken von St. Georg waren seit fast drei Jahren nicht mehr zu hören. Weder zur Mittagszeit, noch zu sonst einer Stunde. Anfang Mai 1942 hatte man die vier größten Glocken der Stadtkirche unter großer Anteilnahme der Hattinger Bürger vom Turm abgeseilt, um sie für Rüstungszwecke umzuschmelzen.

Der junge Mann schaute auf seine Armbanduhr.

Zwölf Uhr Mittag.

Nun musste es also geschehen.

Der 22jährige öffnete den Verschluss des Pistolenholsters und zog mit feuchten Fingern eine Walther P38 heraus. Wahrscheinlich war der Hattinger der einzige Hilfspolizist im Deutschen Reich, der eine dieser erst vor fünf Jahren als Ordonnanzwaffe eingeführten Armeepistolen besaß. Seit er den Rückstoßlader an einem lauen Sommerabend im vergangenen Jahr einem schon sehr angetrunkenen Wehrmachtsangehörigen entwendet hatte, hütete er die Pistole wie seinen Augapfel und auch nach seiner hilfsweisen Verpflichtung für die Hattinger Polizei hatte niemand gefragt, woher die P38 kam.

Der Mann spannte den Hahn, legte seine Linke schützend um die Faust der rechten Hand und stützte die Waffe, deren Lauf dennoch zitterte. Außer ihm und der jungen Frau fünf Meter vor ihm war keine Menschenseele mehr auf dem Pausenhof des neusprachlichen Mädchengymnasiums zu sehen. Kein Wunder: Zum einen war an diesem Mittwoch schulfrei, zum anderen hatte vor nicht einmal zwanzig Minuten ein Fliegeralarm die letzten spielenden Kinder vom Pausenhof an der Bismarckstraße in den nahen Bunker am Rathausplatz fliehen lassen.

Der Mann zählte nahezu unhörbar rückwärts.

„Zehn, neun, acht, sieben..."

Als er bei fünf angekommen war, schloss er seine Augen.

„Drei, zwei, eins, null."

Er zog den Abzug durch, erschrak über den lauten Knall und drehte sich weg.

Dann war es still.

Der Mann steckte die Walter P38 zurück in den Holster und rannte los, um sich vor den angekündigten Jagdbombern auch noch im Rathausbunker in Sicherheit zu bringen. Er nahm sich nicht einmal Zeit, zurückzusehen – er wollte jetzt nur noch überleben... Zweihundert Meter entfernt lag der Eingang zum unterirdischen Bunker vor dem Hattinger Rathaus; der Bunkerwart stand bereits an der Stahltür, als der junge Mann über den Platz gehechtet kam. Auch aus der anderen Richtung lief ein Mann auf den Bunker zu, doch der war noch weiter entfern. Der 22jährige Schütze vom Parkplatz des Mädchengymnasiums sprang die Treppe hinunter und drückte sich in die erste Bunkerschleuse. Hinter ihm schlug die Stahltür zu, ohne dem zweiten Mann Einlass zu gewähren. Als nach vier Stunden die Tür geöffnet wurde, war von ihm nur noch ein rechter Schuh übrig.

1.200 Sprengbomben ließen Hitlers Gegner an diesem 14. März 1945 über Hattingen und dem Stahlwerk an der Ruhr abwerfen und zusammen mit dem Toten vom Bunkereingang fanden 144 Hattinger in diesem sinnlosen Bombardement ihren Tod. Oder waren es „nur" 143 Bombenopfer? Weil man am späten Abend in dem dichten blonden Haar weder die Ein-, noch die Austrittsstelle des 9 Millimeter Parabellumgeschosses wahr genommen hatte, hatte auch niemand registriert, dass die junge Frau auf dem Pausenhof des Gymnasiums kein Opfer des Bombenkriegs geworden war. Und dass dem jungen Hilfspolizisten an diesem Abend eine Kugel im Magazin seiner Walther P38 fehlte, interessierte nach dem bislang schlimmsten Luftangriff auf die kleine Ruhrstadt auch niemanden.Zwölf Uhr Mittag

A. H. Hengsbach und die Schatten des KriegesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt