Kapitel 1 - Teil 1

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Der Brief liegt wie ein schlafender Vogel auf der Fußmatte. Blütenweißes Papier mit geschwungenen Buchstaben darauf.

Er ist ohne Zweifel von Alexejs Mutter und der Anblick des Umschlags verknotet seinen Magen. Langsam hebt er ihn auf und legt seinen Rucksack neben der Kommode ab.
Alexej kennt die Schrift seiner Mutter in- und auswendig und unwillkürlich fährt ihm ein Schauer über den Rücken. Angst ummantelt bitter seine Zunge, als könnte das Schreiben seine mühevoll erlangte Sicherheit gefährden. Warum sucht sie den Kontakt zu ihm? Sie sind nicht im Guten auseinander gegangen, es gibt demnach keinen ersichtlichen Grund für sie, mit ihm in Kontakt zu treten.

Eine dunkle Ahnung ergreift ihn und er wiegt den Umschlag nachdenklich in der Hand, bevor er ihn öffnet und eine nachtschwarze Karte in seine Finger rutscht. In goldenen Lettern starrt ihm das Wort »Einladung« entgegen und als er die Karte auf faltet, entsteht ein Kloß in seinem Hals. Alexejs Knie fühlen sich plötzlich wie Butter an. Noch einmal richtet er seinen Blick auf die Schrift und diesmal liest er die geschriebenen Zeilen, anstatt sie nur zu überfliegen.

Alexej,Hiermit unterrichten wir dich über den Tod deiner Großmutter, Shiva Gamma Thauma. Es ist unsere Pflicht, dich zu ihrer Beerdigung einzuladen und es ist deine Pflicht, hier zu erscheinen. Kleide dich angemessen.
Darunter steht das Datum der Beerdigung und sowohl seine Mutter, als auch sein Vater haben unterschrieben. Ein Wunder, dass seine Mutter seine zwölf Schwestern nicht auch noch gezwungen hat, ihre Namen darunter zu setzen! Der nüchterne Ton der Einladung überrascht Alexej nicht im Geringsten. Die Magos, zu denen er vor Jahren gehört hatte, sind nicht für ihre Herzlichkeit bekannt. Vor drei Jahren hat er sich dazu entschieden, seiner Familie endgültig den Rücken zu kehren und hat DresdenX, die Unterstadt in der er aufgewachsen ist, verlassen. Ganz zur bodenlosen Enttäuschung seiner Eltern, die von den Menschen noch weniger halten als eine weibliche Magos von einem männlichen Magos hält.
Alexej war gut gewesen. Er hatte diszipliniert gearbeitet und Demütigungen und Misserfolge nicht als Ausrede benutzt, um zu versagen. Seine Eltern hatten sich gewünscht, dass er nach seinem Magistium, dem Abschluss an der Schule der Magos, der Miliz beitrat und seiner Familie Ehre und Ruhm einbrachte. Stattdessen entschied er sich, an eine staatliche Universität der Menschen zu gehen und seine magische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Seitdem kleidet er sich wie ein Normalsterblicher, spricht wie einer und geht an eine Universität, als wäre er ein ganz normaler junger Mann.

Natürlich brach er das Herz seiner Mutter, als er die Magos verließ. Aber wenn er ehrlich war, hatte sie sein Herz als Erstes gebrochen, direkt nach seiner Geburt.
Man munkelt, dass seine Mutter ihn nicht einmal auf den Arm hatte nehmen wollen, weil es großes Unglück brachte, wenn das erste Kind ein Junge war. Außerdem hat die Familie Thauma, der Alexej angehört, seit drei Jahrhunderten keinen männlichen Erben mehr hervorgebracht, sondern in jeder Generation ausschließlich dreizehn Mädchen. Dass ihr erstes Kind diese Glückssträhne brach, haben Alexejs Eltern ihm niemals verziehen.
Es stellte sich heraus, dass seine Mutter noch weitere zwölf Mal schwanger werden und gebären sollte. Aber der Seligsprechung war sie durch Alexejs Geburt beraubt worden.
Alexej legt die Karte beiseite und ihm fällt eine zweite Karte ins Auge, die er bisher nicht bemerkt hat. Sie ist grau und unscheinbar gehalten. In kleiner, enger Schrift steht darauf, dass er die Genehmigung hat, DresdenX zu betreten. Ohne diese Erlaubnis würde ihm der Zutritt zur Unterstadt verwehrt bleiben. Taubheit überzieht sein Gesicht, doch diese hat weniger mit dem Tod seiner Großmutter zu tun, die er kaum kannte und nicht einmal mochte. Es ist Wut, die ihn zu übermannen droht, weil er wegen der Beisetzung in seine verhasste Heimat zurückkehren muss.
Langsam verlässt er den Flur, betritt seine Einraumwohnung und rauft sich die Haare. Auf der Karte steht das morgige Datum. Seine Mutter hat die Einladung vermutlich mit Absicht verspätet losgeschickt — in der Hoffnung, dass er es nicht rechtzeitig schafft. Doch Alexej macht sich strafbar, wenn er seiner Großmutter nicht die letzte Ehre erweist und bei ihrer Beerdigung auftaucht. Die Magos nehmen den Tod sehr ernst — viel ernster als die Menschen, die ihn fürchten. Magos ehren ihn und es gibt nichts, was bei ihnen höher steht. Ein guter Tod nach einem langen Leben ist etwas, auf das jeder hinarbeitet. Shiva seine Anwesenheit zu verwehren, wäre ein Schlag ins Gesicht seiner Familie — und wenn er nicht dafür vor Gericht gezerrt werden könnte, würde er diesen Schachzug sogar in Erwägung ziehen.
Jeden Tag seines Lebens hatte Alexej die Enttäuschung seiner Familie zu spüren bekommen. Mit Ausnahme des Tages, an dem er sein Magistium mit Bestbenotung bestanden hatte.
»Für einen Jungen bist du gar kein so großer Versager«, hatte seine Mutter geknurrt und ihm einen beinahe freundlichen Schlag auf den Hinterkopf verpasst.
Alexej erinnert sich nicht gerne an die damalige Zeit zurück. Mehrere Jahre sind seitdem ins Land gezogen und er hat mit der Schande, die er seinen Eltern bereitet hat, längst abgeschlossen. Er begann sein Studium an einer Universität in Berlin, nachdem er mithilfe von Blendmagie seine Hochschulreife gefälscht und sich an unzähligen Universitäten beworben hatte. Letzten Endes hatte er sich für die Evangelische Theologie entschieden, weil er sich nichts Unmagischeres als den Glauben an einen unsichtbaren Gott vorstellen konnte.

Magie war das wohl Rationalste, was es gab, wenn man dazu in der Lage war, sie zu sehen und zu fühlen. Dass die Menschen an einen Gott, aber nicht an Magie glaubten, war Alexejs Meinung nach die allergrößte Ungereimtheit. Vielleicht ist es mit Gott genauso, wie mit den Menschen und der Magie: Nur die Gläubigen können ihn sehen, ebenso wie nur die Magos Magie sehen können.
Aber die Realität machte Alexejs Theorie einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Er wechselte den Studiengang mehrere Male, aber nichts befriedigte den irrenden Geist in seinem Körper. Er fühlte sich nicht dazugehörig, denn die Menschen verstanden ihn nicht und er verstand sie nicht. Aber zurückgehen in das abgeschottete Leben der Magos konnte er auch nicht.

Jetzt würde er es müssen, und diese Feststellung bereitet ihm Übelkeit.
Trotzdem fängt er an, mechanisch seine Sachen zu packen, schlurft ins Badezimmer und klaubt seine Habseligkeiten vom Waschbecken. Aus dem schummrigen Spiegel starrt ihm sein übermüdetes Ebenbild entgegen.
»Das werde ich nicht überleben«, stöhnt er. Aber ihm bleibt nichts anderes übrig. Da seine Großmutter ein hohes Amt — das der Gamma — bekleidet hat, bestimmt die Präsidentin im Laufe der feierlichen Beisetzung Shivas Nachfolger. Nur der Gedanke, danach wieder die Unterstadt verlassen zu können, muntert Alexej ein wenig auf. Leider nicht genug. Die Wahrheit ist, dass es ihm an der Universität nicht besser gefällt als in DresdenX. Entgegen seiner Hoffnungen fällt ihm der Kontakt zu Menschen schwer, denn es ist, als würden sie ihn mit ihren Blicken aussortieren. Ob er einkaufen geht oder in der Bibliothek der Universität hockt — er bleibt größtenteils für sich.
Ab und an bricht jemand in seine Seifenblase und reicht ihm eine Hand. Das sind hauptsächlich junge Frauen, die in seine Welt stolpern und an denen er seine stärker werdenden sexuellen Triebe stillt. Nichts Ernstes. Niemals etwas Ernstes.
Schließlich sitzt Alexej auf gepackten Koffern und trinkt gesüßten Kaffee, um sich wach zu halten. Er sucht sich den nächsten Zug von Berlin nach Dresden heraus, zieht seinen langen Mantel über und befördert seinen Rollkoffer durch die Tür. Nicht einmal für eine einzige Sekunde blickt er zurück. Entschlossen bringt er die nagende Unsicherheit in seinem Innern zum Verstummen und macht sich auf den Weg zum Bus. Bis zum Hauptbahnhof ist es nicht weit und die dunkel vorbeiziehenden Straßen bieten ein perfektes Pflaster für Alexej, um über seine zwiegespaltenen Gefühle nachzudenken. Seine Stimmung sinkt von Minute zu Minute.

SÉANCE [Die erste Synergie]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt