II.II | Ferngesteuerter Spinnenkasten

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Peter

Eiskalter Regen prasselte auf seine Kapuze. Lange Wasserfäden tropften seitlich herunter und vermischten sich mit dem dünnen Film auf dem Gehweg. Einzelne vermummte Gestalten kamen ihm mit eingezogenen Schultern entgegen. Ein Regenschirm schrammte nur Millimeter an seinem linken Auge vorbei.

»Hey, du Depp ...!« Peter drehte sich erbost um, aber der anonyme Passant ignorierte ihn und verschwand im grauen Nass zwischen den Plastbetonbauten. Auf der einen Seite die hohen Glasfronten der Regierungsagenturen, auf der anderen schlichte Betonklötze mit winzigen Fensterschlitzen.

Als er vor dreißig Jahren noch auf Streife war, wäre ihm das nicht passiert. Damals hatten die meisten Menschen noch Respekt vor Polizisten. Wobei davon auszugehen war, dass neunundneunzig Prozent der Leute hier auf dem Bürgersteig für eine Behörde tätig waren, ähnlich wie er. Ansonsten würden sie genauso von zu Hause arbeiten oder spielen wie der Rest Europas.

Die Tür zum 24/7 Kiosk öffnete sich. Pitschnass trat er in den winzigen Raum und kümmerte sich nicht um die Pfütze, die er hinterließ. Der schwarze Klotz eines Fast-Food-Printers sowie das mannshohe Display eines Getränke- und Kaffeeautomaten begrüßten ihn. Die Zeiten, in denen Menschen in kleinen Läden wie diesem arbeiteten, waren schon seit seiner Jugend vorbei. Und die Zeiten, in denen kleine Läden existierten, spätestens, seit man sich sprichwörtlich alles per Drohne liefern ließ.

»Soja-Kaffee, groß, schwarz«, gebot er dem stummen Diener, der sein Verlangen mit fröhlichem Blinken quittierte.

Peter hob seine Hand vor die Scanner-Fläche und war in dem Moment zwei Centraleuro ärmer sowie ein bitteres Gebräu reicher. Das war immer noch deutlich besser als das klumpige Pulver der Dienststelle. Schöne neue Welt. Kurz zögerte er.

»Zwei CaramelMax-Riegel. XXL«, wies er den Automaten an und wartete ein paar Sekunden auf die Produktion.

Wie jeden Tag nahm er sich vor, gesünder zu leben und endlich abzuspecken. Trotzdem brachte er diese fiesen Kalorienbomben direkt mit an den Arbeitsplatz. Egal. In der VR suchte man sich einen Avatar aus und in der Real-Welt interessierte sich niemand für seinen Körper – außer das schlechte Gewissen. Und der lästige Robo-Doc, dessen Untersuchung er jedes halbe Jahr über sich ergehen ließ. Dienstvorschrift.

Platschend lief er auf die andere Straßenseite, ohne den Verkehr eines Blickes zu würdigen. Von rechts rauschte ein gelber Umriss durch den Regen heran, bremste rechtzeitig ab und wartete, bis er vorbei war. Durch die breite Frontscheibe nahm er aus den Augenwinkeln wahr, wie ihm ein Passagier im Businessanzug genervt nachblickte.

Vor ihm erhob sich ein zwanzig Stockwerke messendes, finsteres Gebäude mit verspiegelter Glasfront. Es hatte sicherlich schon dreißig Jahre auf dem Buckel. Neue Büros baute niemand mehr. Und hier in Pullach bei München wurden diese ausschließlich von Polizei- und Überwachungsbehörden genutzt.

Tropfend trat er durch die äußere Sicherheitsschleuse in die Dienststelle der Bundespolizei. Der weite, mit beigem Marmor geflieste Empfangsraum war bis auf die ankommenden Kollegen und fünf Fahrstuhltüren leer. Wie alle Häuser war auch dieses komplett automatisiert. Unbefugte kamen gar nicht erst ins Gebäude. Und so etwas wie physische Besucher existierten in der heutigen Welt ohnehin nicht mehr.

Nach dem automatischen Check-in beim Betreten hörte er die androgyne Stimme der lokalen KI im Ohr: »Guten Morgen, Peter. Ich habe dir Platz fünfunddreißig im zwölften Stock reserviert. Bitte nimm Lift Nummer drei. Ich wünsche dir einen erfolgreichen Tag!«

Ja, ja. Er schenkte sich die Antwort.

Der Fahrstuhl katapultierte ihn und ein paar ihm unbekannte Kollegen, in wenigen Sekunden nach oben. Der weite Raum mit der gedimmten Beleuchtung erinnerte eher an eine Motorenfabrik als an ein Büro. In fünf Reihen zu je zehn Geräten standen die VR-Seats. Vier armdicke Stahlrohre bildeten jeweils eine Kugel. In deren Mitte befand sich ein freischwebendes Drahtgeflecht, das an vielen dünnen Drähten aufgehängt war. Es hatte die grobe Form einer menschlichen Gestalt. In der Ausgangsposition war es wie ein Sitz geknickt. Man konnte sich bequem in ihm niederlassen, um dann mit dem ganzen Körper in die virtuelle Realität einzutauchen. Daher der Name: »VR-Seat«.

📚𝗥𝗔𝗖𝗛𝗘𝗩𝗜𝗥𝗨𝗦 - Ein Thriller im unmittelbaren Morgen (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt