Die Sonne scheint erbarmungslos auf sie nieder. Es ist glühend heiß, ein Tag um an den See baden zu gehen. Ben stöhnt auf. Er kippt sich etwas von dem Wasser über den angesengten Kopf. „Wie lange soll das denn noch dauern?", ist alles, was er zu sagen hat. Mila wippt aufgeregt mit ihrer Hüfte auf und ab und schmeißt sich dann in Bens Arme. Ihr scheint die Hitze nichts auszumachen. Ihre warmen Lippen drücken sich flüchtig auf seine und sie grinst ihn euphorisch an. „Da vorne auf dem Schild steht: Noch 15 Minuten. Das ist so aufregend!!!" Dabei quietscht sie wie ein kleines Kind. Hinter ihr stehen Cathrin und Stephani, ihre besten Freundinnen. Dunkle Sonnenbrillengläser verdecken ihre Emotionen, auch sie recken die Köpfe nach dem Eingang zur Achterbahn. Vor ihnen eine Schlange von Menschen, alle Suchende nach dem großen Kick. Die Achterbahn 'Medusas Blick' ist Die Neuheit des Dark Carnival. Eine Attraktion, die sich sehen lassen kann: Die rasante Fahrt in schwindelerregenden Höhen und finstere Bergtunnel wird durch einen Katapultstart angetrieben. Eine absolute Weltneuheit, die alle bisherigen Achterbahnkonstruktionen übertrifft, deren Züge mühsam einen Steilhang hochgezogen werden. Keiner kennt das Geheimnis dieser atemberaubenden Technik, nur der Erbauer selbst - so wird gemunkelt.
Milas Augen weiten sich gleichzeitig vor Freude und Entsetzen als die nächsten Wagen an ihnen vorbeizischen, stets begleitet von grässlichen Schreien und einem angenehmen Windzug, der Ben kurz aufatmen lässt. Mila kreischt begeistert auf, wobei ihr beinahe das Geburtstagskrönchen vom Kopf gesegelt wäre. Ben verdreht die Augen über das alberne Kostüm seiner Freundin, die zuweilen zu Kitsch neigt. Doch dann bewegt die Menge sich ein paar Schritte nach vorn und die vier Freunde folgen. Nur noch wenige Meter und sie haben das Tor zu den dunklen Gemäuern erreicht. Verkleidete Plastik und viel graue Farbe schaffen das grausige Ambiente eines mittelalterlichen Kerkers. Dahinter ist die Luft von Glückshormonen und Angstschweiß berauscht. Abenteuerlustige, die voller Vorfreude lachen und deren risikoscheue Begleiter, welche sich unsicher umsehen und fragen, wie sie nur hierher gelangen konnten. Der vermeintlich steinerne Eingang ist von aufgemalten Schlangen umgeben und drakonische Klänge wie aus einem Alfred Hitchcock-Meisterwerk tönen ihnen aus Lautsprechern entgegen.
Ben hat den Blick gesenkt, die Schreie und die unheimliche Atmosphäre können ihm nichts anhaben. Er ist einfach nur froh, bald aus der Sonne zu kommen. Desinteressiert lauscht er dem Gerede der drei Freundinnen. „Habt ihr auch von dem Lehrer gehört, der auf der Fahrt gestorben sein soll?", fragt Stephani in die Runde. Milas fröhliches Lachen will nicht vergehen, sie flötet vor sich hin: „Nö, wer hat dir diesen Bären aufgebunden?" „Doch! Die Geschichte ist wahr! Mein Bruder hat es mir gestern erzählt. Der Lehrer wollte gar nicht auf die Achterbahn, aber seine Schüler haben ihn wohl überredet." Nun grätscht Cathrin dazwischen: „Ja, davon habe ich auch gehört. Er muss wohl an einem Herzinfarkt gestorben sein, als er in die Augen der Medusa geblickt hat." „Und wenn schon! Dann war er eben ein alter, kranker Sack. Er hätte wissen sollen, dass so eine Fahrt nichts für ihn ist", gibt Mila unbeeindruckt zurück. „Naja, wenn du meinst", dabei hört Stephani sich nicht ganz so begeistert an. In Wahrheit steigt ihr Puls, je näher sie dem Schlangentor kommen. Ben schüttelt den Kopf über soviel Einfältigkeit: „Die Medusa ist brandneu. Meint ihr nicht, so ein Todesfall müsste erst einmal untersucht werden? Dann wäre sie vermutlich heute gar nicht geöffnet. Das ist der gleiche Schwachsinn, wie die Behauptung der Erbauer hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen." „Kann schon sein", Stephani klingt nicht überzeugt. Sie hat immer noch das Bild des toten Lehrers vor Augen. Ben spricht ungerührt weiter: „Und so ein Gerücht ist doch perfekt, um noch mehr Publikum in den Park zu locken. Überleg doch mal! Passt doch super zu der Gänsehautstimmung, die hier vorherrscht." Mila wirft sich abermals ungestüm an seine Brust und sieht ihn anerkennend durch ihre braunen Augen an. „Ben hat Recht, was soll schon passieren?" – dabei wird sie von einem vorbeidonnernden Zug unterbrochen, abermals dringt schrilles Kreischen in ihre Ohren – „Die hören sich quicklebendig an", grinst Mila verschwörerisch.

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Medusas Blick
HorrorStell dir vor, es sind die 60er Jahre, du bist jung und willst mit deinen drei Freunden einen Grusel-Themenpark besuchen. Ihr steht Schlange vor der neusten Attraktion, der rasanten Achterbahnfahrt mit 'Medusas Blick'. Bereits die Atmosphäre um die...